Wie hilft man Kindern und Jugendlichen, deren Integration ins Hilfesystem immer wieder scheitert? Jenseits des bekannten Kinofilms „Systemsprenger“ gibt es pädagogisch ausgebildete Menschen, die mit diesen Jugendlichen auf eine mehrmonatige Reise gehen. Und dabei im besten Fall nicht nur einen Ort erreichen, sondern auch die Jugendlichen.
von Mici
Benni ist ein neunjähriges Mädchen, das eigentlich nur einen Wunsch hat: wieder mit seiner Mutter zusammenzuleben. Doch Benni ist aggressiv und unberechenbar – keine Schule, keine Wohngruppe oder Pflegefamilie hält es lange mit ihr aus. Erst recht nicht ihre eigene Mutter, die ihrer Tochter mit einer Mischung aus Angst und Überforderung begegnet und zudem zwei weitere Kinder großziehen muss. Egal, was alle um sie herum versuchen, Benni will sich einfach nicht in das konventionelle Jugendhilfesystem einfügen. Einer der letzten Versuche, das Mädchen aus seiner beklemmenden Situation zu befreien, führt es zu einem dreiwöchigen Anti-Aggressions-Training in den Wald, gemeinsam mit dem Schulbegleiter und Erlebnispädagogen Micha.
Wem diese Geschichte bekannt vorkommt, der hat vermutlich den Film Systemsprenger gesehen. Das Drama, erschienen im Jahr 2019, beschreibt die Problematik von Kindern und Jugendlichen, deren Integration ins Hilfesystem immer wieder scheitert; dargestellt am Beispiel der neunjährigen Benni, der mit Hilfe einer besonderen erlebnispädagogischen Maßnahme der Weg zurück in ein normales Leben geebnet werden soll. Was wohl aber die wenigsten wissen dürften, ist, dass solche Maßnahmen tatsächlich existieren, dass dies ein ganz normaler Beruf ist – naja, zumindest fast.
Konkret werden solche Trainings als Intensive sozialpädagogische Einzelbetreuung (ISE) bezeichnet – eine besondere Form der Kinder- und Jugendhilfe für diejenigen, die von den konventionellen Angeboten nicht erreicht werden. Martin Emberger, der selbst in diesem Job tätig ist, bezeichnet sie lieber als Reiseprojekte, da ISE-Maßnahmen auch andere Jugendhilfeangebote umfassen, nicht nur das gemeinsame Training in der Natur. Obwohl sich die Reiseprojekte in unserer Gesellschaft noch keiner allzu großen Bekanntheit erfreuen, werden sie vermehrt in Anspruch genommen; vielmehr kann der Bedarf von den wenigen in diesem Beruf tätigen Pädagogen nicht einmal annähernd gedeckt werden. Die Organisation der Projekte, insbesondere die Vermittlung der Kinder und Jugendlichen an die Pädagogen, wird von freien Trägern der Jugendhilfe übernommen, die wiederum Anfragen von Jugendämtern oder den Eltern der Kinder und Jugendlichen bekommen. Teilweise, erzählt Martin, erhielten die Träger eine Anfrage täglich – und das für ein im Schnitt dreimonatiges Reiseprojekt. Wer hier eins und eins zusammenzählt, erkennt schnell, dass diese Rechnung nicht aufgehen kann. Im Gegensatz zu Micha und Benni, deren Training sie für nur drei Wochen in einen nahegelegenen Wald führt, aus dem sie sich kaum wegbewegen, legen die Jugendlichen gemeinsam mit ihrem Pädagogen in der Realität mehrere hundert Kilometer zurück – meist in Deutschland, doch auch Reiseprojekte im Ausland sind nicht unüblich. Um die Finanzierung der Projekte kümmert sich das jeweilige Jugendamt, das sowohl den freien Träger als auch den Pädagogen selbst bezahlt sowie für die laufenden Kosten während der Reise aufkommt.
Bei der Vermittlung der Klienten, wie Martin sie nennt, sei der persönliche Kontakt besonders entscheidend: „Die Leute, für die ich arbeite, kennen mich persönlich und wissen, wer ich bin und wie ich bin, was meine Arbeitsweise ist. Die Anfrage kommt dann für einen Klienten, von dem sie denken, der passt zu mir.“ Schließlich nimmt sich Martin selbst die Zeit, um den Jugendlichen zunächst kennenzulernen und sich mit dessen Geschichte vertraut zu machen. Für den Job ebenso wichtig wie der persönliche Kontakt seien die individuellen Voraussetzungen, die ein Pädagoge mitzubringen hat. Denn neben der fachlichen Qualifikation, d.h. einer Ausbildung oder einem Studium im sozialen Bereich, seien vor allem Eigenschaften wie Durchsetzungsvermögen, Geduld, eine gefestigte Persönlichkeit und die Fähigkeit, Abstand zu den Kindern und Jugendlichen gewinnen und halten zu können, entscheidend, um in dem besonderen „Berufsalltag“ bestehen zu können. Wie in jedem anderen Job auch spiele zudem die Erfahrung eine große Rolle, erzählt Martin, sowohl im Umgang mit den Klienten als auch mit Mutter Natur. Doch eine spezielle Aus- oder Weiterbildung für die Reiseprojekte gebe es bisher nicht.
„Im Endeffekt ist die gesamte Reise eine Metapher“
Besonders das Wahren einer gewissen Distanz ist etwas, das Micha mit Benni nicht zu gelingen scheint, nimmt er sie doch sogar für eine Nacht bei sich zu Hause auf. Diese besondere Fürsorge, die er ihr gegenüber entwickelt hat, mag vielleicht auch mit dem jungen Alter des Mädchens zusammenhängen. In der Realität, so Martin, seien die meisten Klienten aber eher zwischen 13 und 18 Jahren alt. Das mache die Erlebnisreise durch die Natur auch um einiges einfacher, denn in diesem Alter könnten die Jugendlichen Metaphern viel besser verstehen: „Im Endeffekt ist die gesamte Reise eine Metapher.“ Denn so schwierig wie für die Jugendlichen zunächst die Bewältigung ihrer Probleme scheint, so unmöglich zu schaffen wirkt auch die monatelange Wanderung. Doch mit der Zeit erkennen sie, dass sie ihrem Ziel tatsächlich näherkommen, wenn sie einfach einen Schritt vor den anderen setzen und nicht aufgeben. Schnell mache es bei seinen Klienten dann Klick im Kopf, sagt Martin, er brauche meist gar keinen Denkanstoß mehr zu geben.
Auch wenn der Grundgedanke der Reiseprojekte ziemlich fortschrittlich und an die Strukturen und Probleme der heutigen Gesellschaft angepasst ist, wirken sie in ihrer Umsetzung doch ziemlich minimalistisch, vielleicht sogar etwas altmodisch. Es gibt kein besonderes Action-Abenteuer-Programm, auf der Tagesordnung stehen. Stattdessen laufen, reden, essen, schlafen – und das jeden Tag aufs Neue. „Es sind so die Grundbedürfnisse, die wir erfüllen: aufstehen, frühstücken, zusammenpacken, das Lager abbauen und los geht die Orientierung mit der Karte und dem Kompass. Irgendwann steuern wir auch ganz normal einen Supermarkt an“, erzählt Martin. Für alle, die sich schon vorgestellt hatten, wie Martin mit seinen Klienten im Wald sitzt und Regenwürmer isst, kommt diese Information wahrscheinlich ziemlich enttäuschend. „Manchmal muss man dafür aber auch erstmal 15 km laufen. Dann suchen wir uns abends, bevor es dunkel wird irgendein Wäldchen, in dem wir unser Lager aufschlagen können und wenn’s dunkel wird, gehen wir schlafen.“ So ist das Reiseprojekt nicht nur für die Jugendlichen, sondern auch für den Pädagogen selbst ein 24/7-Job und die gesamte Zeit für beide sehr intensiv, sowohl physisch als auch mental. Deshalb hat Martin sich als Maßstab gesetzt, nach einem Reiseprojekt so lange Pause zu machen, wie er gearbeitet hat.
Zu Beginn der Reise sind für die Jugendlichen die täglichen Aufgaben, wie das Aufbauen des Lagers, das Einstellen der Schnallen an ihrem Rucksack oder einfach das Wandern an sich noch ziemlich anstrengend. Nach ein paar Wochen müssen sie dann aber nicht mehr über jeden einzelnen Handgriff nachdenken, sondern kommen in einen gewissen Flow, die Füße setzen sich automatisch vorwärts und die eigentliche Schwierigkeit beginnt: Der Kopf fängt an zu arbeiten. Denn, wenn man die ganze Zeit körperlich beschäftigt ist, der Kopf aber keine konkrete Aufgabe oder Ablenkung hat, sucht er sich selbst eine Aufgabe und die Person fängt an, über ihre Situation nachzudenken und schließlich auch zu reden. Natürlich haben die Jugendlichen dabei mehr und weniger mitteilsame Tage, doch viele von ihnen haben ein unheimliches Mitteilungsbedürfnis und sprechen nicht nur über ihre Vergangenheit, sondern vor allem über ihre Zukunft, über ihre Pläne und Visionen. „Manchmal haben sie wahnsinnig reflektierte Momente, in denen ich total überrascht bin und denke: ‚Wow, das können einige nicht, die doppelt so alt sind wie du‘“, erzählt Martin. Nach einiger Zeit kann er mit seinen Klienten auf einer sehr persönlichen Ebene kommunizieren, man kann Spaß miteinander haben und tatsächlich überwiegen irgendwann die entspannten Momente. Natürlich wird man im Laufe der Zeit auch mit einigen Schwierigkeiten konfrontiert: Nicht immer sind Pädagoge und Klient ein Herz und eine Seele, nicht immer strotzen beide vor Energie und Motivation für den bevorstehenden Tag und nicht immer spielen die äußeren Umstände den beiden in die Karten. Doch selbst die schwierigen Momente sind im Endeffekt gut, da man auch – oder vor allem – aus ihnen lernen kann.
An seinem Job schätzt Martin vor allem, dass er draußen in der Natur arbeiten kann, da er so häufig in den Genuss des Gefühls kommt, lebendig und frei zu sein. Auch gefällt ihm, dass es eine sehr praktische und direkte Arbeit ist, die Erfolge sofort erkennen lässt. Denn ohne Fernseher, ohne andere Jugendliche, ohne Betreuer, die man gegeneinander aufbringen könnte, fehle jegliche Art der Ablenkung, wodurch die Reiseprojekte eine wesentlich intensivere Einzelbetreuung ermöglichten als viele andere Jugendhilfemaßnahmen. So lasse es sich auch viel besser auf die Jugendlichen einwirken als in irgendeinem Schichtsystem, erklärt Martin: „Ich lasse mich nicht so leicht verarschen.“ Auch merken die Jugendlichen schnell, wie sie sich ihm gegenüber zu verhalten haben, was sie sich erlauben können und wo sie an Grenzen stoßen. Letztendlich gibt es für Martin nur drei Regeln, die er ihnen am ersten Tag mit auf den Weg gibt: „Wenn du mich nicht anpackst, pack ich dich nicht an. Wenn du ein Tier tötest, dann isst du das Tier. Wenn du abhauen willst, sag Bescheid, ich komme mit.“ Alles Weitere sei einfach logisch oder baue auf diesen Regeln auf. Wenn ihn seine Klienten dennoch einmal zu sehr nerven, gibt es für ihn eine simple Lösung: Kopfhörer rein und ein paar Meter vor oder hinter ihnen laufen. Dieselbe Möglichkeit gewährt er andersrum auch den Jugendlichen, wenn sie einen schlechten Tag haben und nicht reden wollen oder wenn sie einfach mal ihre Ruhe brauchen. Das Wichtigste dabei – so wie bei eigentlich jedem Konflikt, egal mit wem und in welcher Situation – ist lediglich, nicht nachtragend zu sein und anschließend wieder miteinander reden zu können. Etwas, das sowohl Martin als auch seinen Klienten in der Regel tatsächlich gut gelingt.
„Es gibt keine Universallösung“
In Situationen, in denen der kurzzeitige Abstand zueinander auch nicht weiterhilft, muss Martin dennoch kaum Konsequenzen setzen, da die Jugendlichen durch die Natur bzw. die Gegebenheiten, die die Reise in der Natur mit sich bringt, die Auswirkungen ihrer Handlungen direkt am eigenen Leib zu spüren bekommen. Wenn sie ihr Geschirr nicht abwaschen, gibt es im Heim oder in den Wohngruppen natürlich genug Ersatz – auf der Reise nicht. Wenn sie ihren Rucksack nicht vernünftig packen, tut ihnen schnell der Rücken weh. Wenn sie ihre Plane zum Schlafen schlecht aufspannen, fließt das Wasser rein, wenn es regnet. Für den Fall, dass Martin dennoch einmal durchgreifen muss, kann er das auf sehr einfache und direkte Weise tun: „Wenn sie Plastik in den Wald schmeißen, dürfen sie eben das nächste Mal kein in Plastik verpacktes Essen mehr kaufen. Es macht ja keinen Sinn zu sagen: Du hast Müll in den Wald geschmissen, du bekommst morgen kein Taschengeld. Da fehlt die Verbindung.“
Das Schöne an der Natur ist auch, dass sie sehr einfache Strukturen bietet, an die sich die Jugendlichen während des Reiseprojekts einfach gewöhnen müssen, weil sie keine andere Wahl haben. Letztendlich soll ihnen das auch dabei helfen, sich danach wieder langsam an die Strukturen in der Gesellschaft zu gewöhnen – etwas, das ihnen als Systemsprenger natürlich fehlt. Eine solche Struktur, in die eine Wiedereingliederung gewünscht ist, ist beispielsweise die Schule. In der Regel ist die Wiederbeschulung kein Ziel, was sofort im Anschluss an das Reiseprojekt erreicht werden soll. Es ist keineswegs das Ende eines langen Weges, sondern vielmehr erst der Anfang und dient eher als eine Vorbereitung für weitere, konventionelle Jugendhilfemaßnahmen.
Bei Systemsprengerin Benni war Michas erlebnispädagogisches Training nicht unbedingt von Erfolg gekrönt, ebenso wenig wie sein Versuch, keine Bindung zu dem Mädchen aufzubauen. In der Realität zeigten die Reiseprojekte allerdings meist eine Wirkung, erzählt Martin, es lasse sich eine stabile Entwicklung bei den Jugendlichen erkennen. Meist erkundigt er sich ein Jahr später bei den Eltern, wie es ihren Kindern ergangen ist und steht seinen Klienten in Ausnahmefällen auch mal als Ansprechpartner zur Verfügung, versucht allerdings den regelmäßigen Kontakt zu vermeiden.
Auch für Martin sind die vielen Reiseprojekte, die er im Laufe der Jahre gemacht hat, Teil eines langen Weges, auf dem er natürlich auch viel über sich selbst lernt, über seine Stärken und Schwächen. Immer wieder ist ihm bewusst geworden, dass sein Beruf einfach noch nicht bekannt genug ist. Er glaubt allerdings, dass es viele Pädagogen gibt, die in ihrem derzeitigen Job vielleicht gar nicht so glücklich sind und für die solche ISE-Maßnahmen eine gute Option wären. Dafür muss die Arbeit als solche aber natürlich noch bekannter und die Möglichkeiten für solche Reiseprojekte breiter werden. In einem nächsten Schritt plant Martin deshalb, seinen eigenen Träger zu gründen. Vor allem hat er im Laufe der Zeit aber eines mitgenommen: „Es gibt keine Universallösung. Es ist immer so, dass man Optionen abwägt und die beim nächsten Mal einfach ausprobiert und schaut was passiert. Es ist mehr so eine Richtung, in die man sich hineinfindet und dann schaut man links und rechts des Weges, in welche Richtung man noch gehen kann.“
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