Roger Willemsen über den touristischen Schnappschuss, verpasste Beerdigungen und literarische Wahrheiten.
UNIQUE: Ernst Jünger sagte einmal, wir dürften nie das rechte Lachen verlieren über die Taten derjenigen, die als Taugenichtse auszogen, weil ihnen die Bücher den Kopf verdrehten. Herr Willemsen, haben Sie das Gefühl, dass wir dieses rechte Lachen bereits verloren haben?
Roger Willemsen: Nun, ich habe das Gefühl, dass ich die Menschen in Konjunktive einlassen kann. Ich sage ihnen: wie könnte man leben, wie könnte man sein, wie wäre man in bestimmten Situationen und bin damit gewissermaßen der Agent des Publikums. Dabei sage ich auch: Vergesst Sehenswürdigkeiten! Ich bereise Situationen, ich bereise einen Geruch, ich bereise eine Umarmung und dann kann die Leserschaft vielleicht sagen: „Jetzt begreife ich. Das kann man für wirklich erklären.“
D.h. „Die Enden der Welt“ ist auch ein Gegenentwurf zu Büchern wie „Tausend Orte, die man gesehen haben muss, bevor man stirbt“?
Ja, ganz recht. Ein solches Buch ist ein Buch für den klassischen Touristen. Der Tourist lebt im Zeitmaß des Lidschlags. Deshalb ist auch das Medium, in dem er existiert, der Schnappschuss. Er will unablässig Augenblicke festfrieren, die eigentlich sagen: „Ich und die Mona Lisa“, „Ich und der Eifelturm“, „Ich und die Tower Bridge“. Der Reisende hingegen ist derjenige, der verschwindet, der sich selbst unsichtbar macht. Der den Ort so sehen will, wie er ist, ohne dass er selbst da ist. Natürlich verändert die Perspektive des Augenzeugen den Ort, aber, wenn der Augenzeuge unter die Schwelle der Wahrnehmbarkeit sinkt, dann kann es passieren, dass er den Ort in seinem An-sich sieht und das ist, was mich sehr viel mehr interessiert.
Ist die Botschaft an Ihr Lesepublikum also: „So sollt ihr reisen!“ oder eher: „Ich reise so, reist ihr ruhig als Touristen, das ist auch in Ordnung“?
Also, ich habe fürchterliche Zerstörung gesehen. Nicht nur durch Massentourismus, sondern auch durch das individuelle Verhalten von Touristen. Insofern kann ich nicht sagen: „Reist, wie ihr wollt!“ Ich muss schon wissen, was ich mit in einen Raum trage, was z.B. das Eindringen von Rationalität in meinem Sinne in Räume bedeutet, die animistisch leben; was das Infragestellen eines Tabus in Polynesien bedeutet, wenn ich nicht nach den Maßgaben des Tabus lebe, denn das Reisen ist eine potentiell zerstörerische Tätigkeit.
Zudem sage ich: Macht mit mir eine Zimmerreise. Schaut, wie unter den Bedingungen des Zuhausebleibens das Reisen möglich ist. Dafür liefere ich euch den Stoff und bringe euch in wüste Landschaften, die ihr genauso bereisen könnt, wie ihr eine Romanlandschaft bereist. Vielleicht schaffe ich es im besten Falle ja auch, die Welt auf den jüngsten Stand zu bringen und zu sagen: So ist es. Jetzt. Dort.
Sie haben gerade davon gesprochen, welchen Ertrag Ihre Leser aus Ihren Büchern ziehen können, was aber macht das Reisen mit Ihnen?
Darauf lassen sich mehrere Antworten geben. Zum einen sind da diese auratischen Orte, die jeder für sich definieren kann, wie Timbuktu, Odessa, Shanghai. Denn Städte bestehen nur zu einem Bruchteil aus Architektur und zu einem viel größeren Teil aus allen Erfahrungen, die je dort gemacht wurden. Ich bereise diese Erfahrung und kontaminiere mich z.B. mit dem, was Damaskus heißt. Außerdem gibt es natürlich noch so etwas wie ein Versprechen der Selbstverwandlung. Dass man das Gefühl hat, wenn ich losreise, werde ich als ein Veränderter dort ankommen und auch als ein Veränderter wieder zurückkehren. Dieser Wunsch entspricht dem Vitalitätsprinzip: Mehr Wirklichkeit, Verdichten, mehr Aufnehmen. Mit Taliban nachts in einer afghanischen Hochhauswohnung sitzen und über afghanische Politik reden. Mit einem Tuareg im Sand von Timbuktu sitzen und mich gemeinsam mit ihm auf eine Karawane in die Oasen vorbereiten. D.h. Situationen, die nicht mehr nur gelesen sind, in denen ich mich von der Wirklichkeit vereinnahmen lasse, auch von der Strapaze, auch von der Einsamkeit, auch von dem Gefühl abgelehnt zu werden.
Um diese Erfahrungen zu machen, die einen Menschen verändern können, muss man sich aber selbst an die Orte begeben. Besteht nicht die Gefahr, dass Sie die Neugier Ihrer Leser schon mit Ihren Büchern befriedigen und diese dann gar nicht mehr aufbrechen, weil sie sagen: „Das macht der Willemsen, der kann das. Ich lese es mir nachher bloß durch.“?
Ja, aber das wäre noch mehr der Fall, wenn es mir nur darum ginge, den Leuten eine Orientierung im fremden Raum zu ermöglichen. Oder wenn ich sagen würde: Ich Ausnahmemensch und Abenteurer liefere euch archetypisch was ich großartiges erlebt habe. Reiseautoren, die so schreiben, interessieren mich in der Regel weniger, weil sie so die Arbeit am ‚Ich’ vor die Arbeit an der Fremde schieben. Ich selbst bin stärker daran interessiert, mich als ein Medium der Betrachtung zu beschreiben. Also als eine bestimmte Form von Persönlichkeit, die sich in Kamtschatka mit Natur, Naturzerstörung und einer sehr zarten Liebesgeschichte auseinander zu setzen hat. Das kippt dann vom Dokumentarischen ins Literarische und wieder zurück ins Dokumentarische, wird zur Mischform. Es ist eben nicht nur
fiktionale Literatur, denn die eigene Anschauung führt zu eigenen Geschichten. Und die überlasse ich den Leuten gerne.
Außerdem könnte es sein, dass sie nach der Lektüre eines solchen Buches sagen, es ließe sich auch anders reisen, als wir bisher gereist sind. Und das ist ein Aspekt, den ich ganz gern mag oder auch wenn die Leute fast erleichtert reagieren und sagen: „Mich hat die Mona Lisa nie bewegt. Gott sei Dank, jetzt gibt es jemanden, der mir sagt: ‚Das darf so sein!’“
Wenn Sie später mit dem Schreiben beginnen, wie wählen Sie aus, was als Geschichte Eingang in ein Buch findet? Spielen Ihre Leser dabei eine große Rolle?
Ich denke nicht vorher darüber nach, was müsstest du machen, um dein Publikum zu finden. Das ist der Beginn vom Abstieg. Aber ich will auch die Zeit des Publikums nicht verschwenden, d.h. ich habe eine Vorstellung davon, was der Ertrag einer Geschichte sein muss. Ich habe zwei Geschichten aus dem Buch wieder rausgeworfen, die mir in dieser Hinsicht nicht kompakt genug schienen. Außerdem habe ich eine Geschichte nicht geschrieben, der ich mich nicht gewachsen fühlte. Das, was ich hätte machen müssen, konnte ich nicht: Ich hatte ein Foltercamp in Kambodscha besucht, das war der schlimmste Ort, den ich in meinem Leben gesehen habe. Trotz aller Recherche und allen Besuchen dort, habe ich mich nicht in der Lage gefühlt, es zu schreiben, weil ich wusste, dass ich so weit hinter dem zurückgeblieben wäre, was ich hätte machen wollen.
Sie formulieren häufig sehr metaphernreich und schaffen es dadurch, etwas Wesentliches auszudrücken, was über die eigentliche Bedeutung des Wortes hinausgeht. Man ahnt beim Lesen, dass man manchmal Wörter uneigentlich verwenden muss, um letzten Endes authentischer zu sein. Wie ist es aber auf der Ebene der Handlung? Fühlen Sie sich da in erster Linie den ‚Fakten’ verpflichtet?
Sehr berechtigte Frage. Das literarische Sprechen, auch das blumige, metaphorische Sprechen, ist manchmal Voraus-
setzung für die Genauigkeit. Es wirkt ungenauer, aber eigentlich wird es dadurch genauer. Auf der Handlungsebene habe ich mir die Lizenz genommen, mal zwei Personen in eine zusammen-zuführen oder zwei Situationen in einer konvergieren zu lassen. Aber nehmen Sie die dramaturgisch spektakulärste Episode aus dem ganzen Buch, die von der Nordpolarexpedition, bei der das Schiff Schaden nimmt und plötzlich eine latent chaotische Situation entsteht. Da waren so viele Leute zugegen, dass ich nichts an dieser Geschichte hätte ändern können, weil jeder Mitreisende der BILD-Zeitung Interviews gegeben und gesagt hätte: „Stimmt alles gar nicht!“
Wobei ich absolut verstehen kann, dass Leute bei manchen Episoden sagen: „Das kann doch nicht sein!“ Aber es ist eben so, wie mir eine Frau in Patagonien sagte: „Wissen Sie, in diesen Gegenden der Welt entwickeln sich die Geschichten gerne dramatisch.“
Um ein Beispiel zu nennen: In Polynesien nehme ich das Schiff nicht, für das ich bereits Karten bestellt habe. Stattdessen fahre ich auf eine Insel zu einer Beerdigung. Ich komme zurück und das Schiff, auf dem ich hätte sein sollen, ist untergegangen: 120 Leute sind tot, das größte Unglück in Polynesien … Wenn ich mir das als Autor ausgedacht hätte, wäre das schon ein sehr trivialer Einfall, also zu sagen: Man geht auf eine Beerdigung, um die eigene zu verpassen.
Herr Willemsen, wir danken Ihnen für das Gespräch.
Das Gespräch führten Robin Korb und Christoph Borgans.
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