Seit Jahren beschäftigt sich Gisella Reller mit Veröffentlichungen aus den Ländern der ehemaligen Sowjetunion. unique sprach mit ihr über russische Mentalitäten und die Herausforderungen für den „neuen“ Präsidenten.
Frau Reller, Sie kennen Russland aus der Sicht verschiedenster Menschen – über Sachbücher, Belletristik, Reise- und Jugendliteratur. Können Sie dabei eine russische oder auch „sowjetische“ Mentalität ausmachen?
Als Reporterin der FREIEN WELT habe ich die Sowjetunion mehr als einhundert Mal bereist, war im hohen Norden, im Fernen Osten, in Sibirien, in der Wüste, in der Taiga, natürlich in Moskau und in St. Petersburg. Ich kenne die „russische Mentalität“ also nicht nur aus Büchern. Dennoch tue ich mich schwer, eine solche Mentalität zu definieren, denn ich habe die unterschiedlichsten Menschen kennengelernt mit den unterschiedlichsten Charaktereigenschaften. Aber vielleicht lässt dieser Trinkspruch etwas von russischer Mentalität ahnen: „Wodka ist Gift, Gift ist Tod, Tod ist Schlaf, Schlaf ist Gesundheit. Wollen wir auf unsere Gesundheit trinken!“
Tja, und von „sowjetischer Mentalität“ kann man wohl nach nunmehr zwanzig Jahren nur noch bei den älteren Russen sprechen, vorrangig bei den Veteranen des Großen Vaterländischen Krieges – womit wir auch bei den Wahlen wären. Einer der fünf Kandidaten für die Präsidentschaftswahlen 2012 war ja Gennadij Sjuganow, der nach der Auflösung der KPdSU einer der Gründer der neuen Kommunistischen Partei der Russischen Föderation war, seit 1993 ist er deren Vorsitzender. Seine Anhänger sind vor allem die Älteren, die bis heute den „guten alten“ sowjetischen Zeiten nachtrauern.
Aber gegen Wladimir Putin scheint ja weiterhin „kein Kraut gewachsen“…
Putins größter Trumpf sind seine bisherigen Verdienste. Er rückte in seiner ersten Präsidentschaft in einer für Russland wirren Epoche an die Macht: Ende der 90er Jahre. Damals herrschte im Land das organisierte Verbrechen, die Eigentums-Filetstücke wurden neu verteilt, im Kaukasus tobte Krieg und Terroraktionen gehörten zum Alltag. Ich war in den neunziger Jahren fünfmal in Russland, u.a. zu Besuch bei einer russischen Freundin, die mich damals nicht alleine auf die Straße ließ, denn sie befürchtete – und das zu Recht –, dass ich als ausländische Touristin überfallen werden könnte. Die Älteren wissen diese Verdienste Putins zu schätzen.
Und die Jugend Russlands?
Die Jugend von heute kann sich an die schweren Zeiten schon nicht mehr aus eigener Anschauung erinnern, und Putins ständige Appelle, wie schlecht es doch in den 90er Jahren gewesen sei, berührt sie nicht. Die Jugend Russlands ist der Meinung, zwei Amtsperioden sind genug! Doch wen sollten die jungen Leute wählen? Den Milliardär Prochorow? Zu den sogenannten Oligarchen – die ihre ungeheuren Reichtümer in den Jahren der Privatisierung am Rande der Legalität anhäuften – haben die jungen Russen erst recht kein Vertrauen. Wussten Sie eigentlich, dass die Demonstrationen mit Protesten der Autofahrer begannen?
Es fing an mit dem tragischen Verkehrsunfall des Gouverneurs der Region Altai in Sibirien: Sein Dienstwagen raste in ein mit normaler Geschwindigkeit fahrendes Auto; das lokale Gericht gab dem Autofahrer die Alleinschuld am Tod des Gouverneurs. Das Urteil löste eine landesweite Protestwelle aus. Und siehe da, es folgte ein Freispruch. Nach diesem Erfolg machten die Autofahrer weiter. Diesmal demonstrierten sie im fernöstlichen Wladiwostok, als die Regierung einen Import japanischer Autos mit Lenkrad auf der rechten Seite verbot. Diese Massendemonstrationen in einer Stadt, in der japanische Autos seit Jahren zum Stadtbild gehörten, zwangen den Kreml zu einem Rückzieher. Jetzt wurden die Autofahrer kühner. Ihr nächster Protest richtete sich gegen die korrupte Straßenpolizei. Nach dem neuesten Gesetz dürfen sich die Autofahrer nun gegen die korrupten Beamten wehren, indem sie das Gespräch mit ihren Mobiltelefonen aufzeichnen und als Beweis vor Gericht verwenden können. Die Protestbewegung der Autofahrer war bis dahin der einzige landesweite Ausdruck von Zivilcourage in der Russischen Föderation – bis vor wenigen Jahren, da die Oppositionellen, von den Erfolgen der Autofahrer beflügelt, auch auf die Straße gingen. Zu den Demonstranten gehört übrigens auch Boris Akunin, ein weltweit bekannter russisch-georgischer Schriftsteller!
„Welches Land ist ähnlich vielseitig kompliziert? Russland wird seinen eigenen Weg in die Demokratie finden müssen.“
Für die Proteste gibt es hierzulande wohl mittlerweile mehr Verständnis als für Putins Herrschaft. Inwieweit lässt sich dieses „westliche“ Sicht der Dinge auf die russische Gesellschaft übertragen?
Das westliche Bild lässt sich selbstverständlich nicht einfach auf die russische Gesellschaft übertragen. Der Leiter des Kompetenzzentrums für Russland, die Ukraine, Belarus und Zentralasien in der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik, Alexander Rahr, beginnt sein neues Buch Der kalte Freund – Warum wir Russland brauchen mit den Sätzen: „Russland die Demokratie zu lehren ist ein hoffnungsloses Unterfangen. Das Land ist viel zu stolz, um die Schulbank zu drücken. Und der Westen eignet sich auch nicht als vorbildlicher Lehrmeister.“ Bliebe zu ergänzen, dass auf russländischem Territorium mindestens sechzig Sprachen gesprochen werden und vier Weltreligionen und der Schamanismus zu Hause sind. Welches Land ist ähnlich vielseitig kompliziert? Russland wird seinen eigenen Weg in die Demokratie finden müssen.
Was vermuten Sie persönlich, wie viele Menschen stehen wirklich hinter Putin – sind die Demonstrationen Ausnahme oder repräsentieren sie wirklich einen bedeutend großen Teil der russischen Bürger?
Ich habe auf meinen Reisen viele Freunde gewonnen; mit ihnen und ihren erwachsenen Kindern stehe ich seit vielen Jahren im Briefwechsel. Deshalb weiß ich: Noch ist die Opposition ein relativ kleines Pflänzchen. Bisher demonstrieren ja nur Menschen in den großen Städten, doch 25 Prozent der Bevölkerung Russlands leben in Dörfern… Stellen Sie sich doch einmal vor, dass 50 Prozent der Dorfbevölkerung nicht einmal an die Gasversorgung angeschlossen sind! Glauben Sie mir, es brodelt und gärt im ganzen Land; da tut sich was. Deshalb vermute ich, dass Putin nicht die vorgesehenen sechs Jahre im Amt bleiben wird – wenn er nicht einen deutlich spürbaren Schwenk in Richtung Demokratie unternimmt, der Korruption wirklich den Kampf ansagt, die Justizwillkür beseitigt, sich der nichtrussischen Völker auf russländischem Territorium annimmt. In Russland haben seit eh und je drei Institutionen das Sagen: der Herrscher, die Kirche – und die Armee. Putin hat eine Aufrüstung der Streitkräfte angekündigt und den Sold der Offiziere um das Zweieinhalbfache erhöht! Schließlich ist der jeweilige Präsident auch der Oberbefehlshaber der Streitkräfte; deren Stimmen hatte sich Putin mit dieser Maßnahme – drei Wochen vor der Wahl – bereits gesichert.
Können wir zurzeit einen Mentalitätswechsel in Russland beobachten? Oder ist die Opposition bloß in das Blickfeld unserer Beobachtung gerückt?
Oh ja, es gibt einen Mentalitätswechsel. Ich denke, in Zukunft werden sich vor allem die Zwanzig- bis Fünfzigjährigen einen Mann, der wie ein Autokrat auftritt, nicht mehr bieten lassen. Das weiß auch Putin – der ja diesmal sogar für sechs statt für vier Jahre das Staatsoberhaupt sein wird. Aber wir sollten uns den Namen Alexej Nawalny merken. Der Wirtschaftsanwalt hat es geschafft, mit einer imposanten Medienstrategie zum echten Ärgernis für den Kreml zu werden. Mit präzisen, gut informierten Beiträgen zu Korruptionsfällen in Staatsunternehmen machte er sich einen Namen als Blogger. Putin nannte er kurzerhand einen „Dieb“ und beschuldigte Putin und Medwedew, die Duma-Wahl manipuliert zu haben – er saß daraufhin 15 Tage lang im Gefängnis.
Sie sprachen ja bereits mehrfach von ethnischen Problemen. Können Sie uns ein konkretes Beispiel nennen?
Nehmen wir als Beispiel die Kalmyken, ein mongolisches Volk, das etwa tausend Kilometer südlich von Moskau in der Steppe zwischen Wolga, Kaukasus und Kaspischem Meer auf russländischem Territorium lebt. 1986, als ich Kalmykien bereiste, schwiegen die einst von Stalin deportierten Kalmyken auch mir gegenüber von ihrer Religion. Seit 2005 nun schmückt ein prunkvoller buddhistischer Tempel mit einer neun Meter hohen Buddha-Statue die Hauptstadt Elista; in Kalmykien wurden in den letzten zehn Jahren 55 neue buddhistische Gebetshäuser und 30 Tempel gebaut. „Aber“, sagen die Leute von Elista, „der Tempel ist schön und gut, aber er ernährt uns nicht.“ Kalmykien gehört zu den ärmsten Gegenden der Russischen Föderation. Und so gibt es in den Autonomien auf russländischem Gebiet ethnische Probleme über Probleme. Es wird sich rächen, wenn man sie vernachlässigt.
Haben Sie zum Schluss noch einen Tipp für uns, welches Buch man jetzt, nach der Wahl, unbedingt lesen sollte?
Ich lese und bespreche ja zu bestimmten Anlässen bevorzugt Bücher, die zu dem jeweiligen aktuellen Ereignis passen, in den letzten Wochen waren das also einige Bücher, die sich mit russländischer Problematik befassen. Sehr empfehlenswert ist dabei das Buch Die russische Frage von dem russischen „Medien-Zar“ Alexander Lapin.
Frau Reller, wir danken Ihnen für das Gespräch.
Das Interview führte Mariella.
Zur Person:
Gisela Reller ist gelernte Buchhändlerin, hat später Journalistik und Russistik studiert. Als Reisejournalistin arbeitete sie bei der Ostberliner Illustrierten FREIE WELT und hat fast drei Jahrzehnte lang über die Völker der ehemaligen Sowjetunion berichtet. Seit zehn Jahren veröffentlicht sie auf ihrer Webseite (www.reller-rezensionen.de) Rezensionen über deutschsprachige Bücher aus dem gesamten Raum der früheren Sowjetunion.
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