„Man muss Menschen dazu ermuntern, immer wieder hinzugucken“

Fotografie aus Kurdistan © Johannes Müller

Johannes Müller fotografiert nebenberuflich in Kriegs- und Krisengebieten wie Afghanistan, Irak und Mali. Mit unique spricht er über die Gefahren seiner Arbeit, über Fußball spielen und Teetrinken im Krieg und die schwierige Rückkehr in ein „Wellness-München“.

unique: Wie kommt man als Fotograf in Krisengebiete? Welche Organisationen und Personen haben dich bei deiner Arbeit unterstützt?

Johannes Müller: Ich habe den Akkreditierungsprozess der NATO durchlaufen und mich mit einem Konzept beworben, Bilder vom Hindukusch zu machen, die positive Emotionen auslösen, statt nur die Kriegsmaschinerie zu zeigen. Ich wollte wissen, welche Menschen dort leben, was für Menschen das sind, die dort Soldaten werden. Ich hatte vorher schon ein paar Ausstellungen und Veröffentlichungen meiner Bilder gehabt und konnte etwas vorweisen. Mein Konzept wurde an die Bundeswehr geschickt, an das Presseinformationszentrum des Einsatzführungskommandos. Die meinten, noch niemand sei zuvor auf sie zugekommen, um etwas Positives über das Kriegsgebiet zu berichten. Dann war ich 2011 zum ersten Mal in Afghanistan und war natürlich hinreichend überwältigt von der ganzen Situation und dem Land – und den Menschen.

Was ist mit den Personen, die die Journalisten vor Ort unterstützen?

Das sind ganze, ganz beeindruckende Personen, die s.g. Fixer oder Stringer, die das aus Idealismus machen. Teilweise auch, weil sie nichts anderes gefunden haben, um zu überleben. Sie haben ein wahnsinnig gutes Gespür dafür entwickelt haben, wer in welcher Region gerade am Drücker ist, wo die Truppenbewegungen sind, welcher General abgelöst wurde. Diese Menschen sprechen die Dialekte, sie haben auf privater Basis ein tolles Netzwerk, sodass du überhaupt gar keine andere Chance hast, als mit ihnen zu arbeiten. Klar, wenn du da mit einem Ortsansässigen in so eine Region gehst, dann kommst du halt näher ran. Das ist dementsprechend auch gefährlicher. Du bist dann teilweise schon recht abenteuerlich unterwegs an den Checkpoints und in der Wüste. Das ist schon Pfadfinder für Fortgeschrittene. Aber es sind wahnsinnig interessante Leute. Sie sind immer wieder ein Quell der Inspiration und des Wissens.

Welche Eindrücke hast du in Afghanistan gesammelt? Hast du das Gefühl, dass sich das Land zum Positiven entwickelt hat durch die militärische Intervention und die Präsenz internationaler Streitkräfte?

Zunächst einmal kam ich dort an und war vollkommen überwältigt von einer ganz anderen Kultur, wie ich sie noch nie gesehen hatte. Dieses teilweise archaisch anmutende – und das meine ich gar nicht negativ! Natürlich auch wirtschaftlich und technologisch sehr zurückgeblieben. Aber unglaublich liebevolle und nette Menschen, wahnsinnig hilfsbereit, beeindruckend gastfreundlich. Ich habe keinen einzigen Extremisten dort getroffen. Alle Menschen, die mir begegnet sind, waren ganz normale Menschen, die nichts mehr wollten als ein bisschen Frieden, etwas zu Essen, Gesundheit und idealerweise Bildung für ihre Kinder – ganz ähnlich wie bei uns, nur eben auf einem anderen Level. 2011 sagten die meisten, dass sie dankbar sind für die stabilisierenden Maßnahmen der internationalen Gemeinschaft und dass diese Taliban in Schach hält, denn deren Regime haben die Menschen immer noch als sehr brutal in Erinnerung. Zumindest ist es ein Stück weit sicherer geworden, als dies davor der Fall war.

Afghanistan © Johannes Müller

Was macht es mit den Menschen und mit einer Gesellschaft in ihrer Gesamtheit, wenn sie sich so lange in einem bewaffneten Konflikt befinden und über Jahre keine Ruhe eingetreten ist? Gibt es Unterschiede zwischen Männern und Frauen?

Ich glaube die Wahrheit stirbt als erstes im Krieg, dann kommen die Zivilisten und da sind die Frauen ganz besonders brutal betroffen. Das Land ist seit Dekaden im Krieg. Ich befürchte, dass fast die komplette Bevölkerung traumatisiert ist. Wenn man Geflüchtete aus diesen Ländern aufnimmt, muss man das berücksichtigen. Traumatisierte Menschen reagieren teilweise auf Stimuli des alltäglichen Lebens extrem, bei denen wir nicht einmal mit der Wimper zucken. Reaktionen können ganz unterschiedlich sein, Erschrecken, Aggression, Durchdrehen. Ich glaube viele der Vorfälle, zu denen es in Flüchtlingsunterkünften gekommen ist, sind nicht darin begründet, dass sie schlechte Menschen sind, sondern darin, dass sie hochgradig traumatisiert sind. Frauen und Kinder leiden natürlich in Kriegsgebieten ganz besonders. In vielen Konflikten werden Vergewaltigungen als taktisches Mittel eingesetzt. Das ist widerlich und zu verurteilen, aber ich habe das in vielen Ländern mitbekommen.

Was kann man denn tun, um gerade Frauen zu unterstützen?

Zusammen mit einer Martial Arts Trainerin aus der Schweiz habe ich dieses Jahr angefangen, ein eigenes, prototypisches Hilfsprojekt in Mali und im Nordirak aufzusetzen. Wir haben Selbstverteidigungskurse für Frauen gestartet. Es geht nicht darum, dass sie anfangen zu kämpfen, sondern dass sie mit einer anderen Qualität von Selbstbewusstsein durch Leben gehen. Viele Übergriffe fangen ja ganz leicht an. Wenn man dann als Frau nicht ganz resolut und sehr vehement sofort dagegen hält wird man eher ein Opfer, als wenn man in der Lage ist, sich physisch zu wehren. Wir „schenken“ diesen Prototypen an verschiedene NGOs, damit sie das weiterentwickeln können. Es ist nur dann nachhaltig, wenn Menschen vor Ort die Projekte übernehmen.

In Summe kann man gar nicht genug für Frauen und ihre Rolle in der Gesellschaft tun! Je stärker die Rolle der Frau desto friedfertiger der Gesamtverbund. Das sieht man besonders in Kurdistan und im kurdischen Teil des Irak. Dort werden Frauen deutlich gleichberechtigter behandelt als in anderen Teilen der Länder, was zu einer wesentlich pazifistischeren, pluralistischeren und gechillteren Gesellschaft führt. Dabei darf man aber auch nicht die Männer vergessen! Sie brauchen ebenfalls eine Möglichkeit, ihre Energie und ihre Frustration konstruktiv abzubauen. Es gibt Beispiele aus den Flüchtlingslagern in Griechenland, wo man Frauenprojekte durchgeführt hat, aber die Männer vernachlässigt wurden, was wiederum zu erhöhtem Aggressionspotential bei diesen führte.

Du warst kurz nach der Befreiung in Mosul und hast dort sehr eindrückliche Bilder einer vollkommen zerstörten Stadt geschossen. Wie fühlt man sich, wenn man durch eine 3.000 Jahre alte aber vollkommen zerstörte Stadt fährt?

Das klingt immer so nett: kurz nach der Befreiung. Die Befreiung wurde zwar am Morgen im Radio verkündet. Wir sind aber trotzdem fast an jeder Straßenkreuzung unter Beschuss gekommen, nach wie vor haben sich Leute vor uns, hinter uns, neben uns in die Luft gesprengt. Nach wie vor sind Raketen geflogen. Das war schon sehr intensiv. Überall lagen Schuttberge einer tausende Jahre alten Stadt, die in dieser Form wohl nie wieder aufgebaut werden kann. Unter vielen Trümmern lagen noch Leichen. Dieser Geruch von verwesenden Körpern, das war ein süßlich-klebriger Gestank in einer solchen Intensität, dass ich ihn wahrscheinlich nie wieder ganz aus meiner Nase bekomme. Die Farbgebung in diesen Schuttbergen ist wie in einem entsättigten Film, da alles unter Staub und Ruß begraben wurde. Die Geräusche der Kämpfe, die visuellen Eindrücke, die eigenen Emotionen, wenn ein paar Meter weiter eine Luftbodenrakete einschlägt und man ständig das Gefühl hat, unheimlich aufpassen zu müssen, da man ja nie weiß, hinter welcher Kreuzung noch ein Scharfschütze lauert, das ist eine unheimlich intensive Erfahrung.

Mossul, Irak © Johannes Müller

Wie ist man in solchen Situationen abgesichert?

Man hat halt eine Schutzausrüstung. Eine ballistische Weste mit einer Weichballistik- und zwei Schutzklasse-3 oder -4-Platten drin. Die sind vorne und hinten und können dann auch Hochgeschwindigkeitsgeschosse rein theoretisch noch aufhalten. Ein Kevlarhelm. Ein Medizin-Kit. Machen wir uns da aber nichts vor, wenn es richtig heiß wird, dann bringt dich das auch nicht wirklich weiter. Es ist jetzt keine Garantie, dass du da sicher herauskommst. Das muss man einfach schon akzeptieren. Bis jetzt ist mir bis auf Kleinigkeiten eigentlich noch nie etwas Ernsthaftes passiert. Gehe ich davon aus, dass ich immer Glück haben werde? Nein. Man darf da nicht leichtsinnig werden. Ich bin da eher respektvoll, um nicht zu sagen auch ängstlich. Der Job hat nichts mit Heldentaten zu tun und ist ganz sicher nichts für Draufgänger.

Du warst auch mit den Peschmerga, den Streitkräften der Autonomen Region Kurdistan unterwegs und hast erlebt, wie diese ihre Dörfer vom Islamischen Staat zurückerobern.

Mich hat sehr beeindruckt, wie Menschen, die eigentlich selbst nichts haben, jeden Tag kämpfen. Die Peschmerga sind natürlich mittlerweile beinahe ein Heer, aber bis heute werden die Männer nicht vernünftig bezahlt. Die meisten müssen selbst backen, Taxifahren o.ä. um es sich überhaupt leisten zu können, in den Krieg gegen den IS zu ziehen. Das ist schon sehr beeindruckend, zu sehen, mit welcher Hingabe und welcher absoluten Selbstaufopferung sie in diese Konflikte gehen. Das ist natürlich ganz anders, als wenn man mit Bundeswehrsoldaten, Mitgliedern der US-Army oder irakischen Soldaten in den Krieg zieht. Die Peschmerga wissen, dass ihre Existenz von ihren militärischen Erfolgen abhängt. Trotzdem habe ich nie einen schlecht gelaunten Peschmerga erlebt – so romantisch verklärt das auch klingen mag. Sie wussten, wofür sie kämpfen und hofften, dass sie über einen Sieg gegen den IS ihren jahrhundertealten Traum eines eigenen Staates verwirklichen zu können. Wir wissen ja leider alle, wie das ausgegangen ist.

Wie nehmen es die Leute überhaupt auf, wenn da jemand aus dem privilegierten, aus ihrer Sicht unbeschwerten Deutschland kommt? Ist das für sie eine Aufwertung oder empfinden sie dies eher als Einmischung?

Eher ersteres. Also es gibt sicherlich ein paar Situationen, in denen man dann nicht fotografieren sollte oder will. Aber in Summe, nehmen Menschen das schon tendenziell eher positiv auf, dass da jemand ist, der sich glaubhaft für sie interessiert. Das ist ja eher andersherum. Wenn man nichts tut, haben die Menschen das Gefühl, die Welt hätte sie vergessen. Egal wo und in welchem Konfliktherd. Insbesondere, dass ich ehrenamtlich arbeite, wird schon wohlwollend aufgenommen.

Mali © Johannes Müller

Viele Konflikte sind unsichtbar für die Öffentlichkeit. Welche Gründe gibt es hierfür? Und welche Rolle hat Kriegsfotografie oder insbesondere deine Fotos, um etwas zu verändern?

Ich kann nur sagen, welche Rolle ich ihnen gerne zusprechen würde. Ich glaube, man muss Menschen dazu ermuntern oder immer wieder hingucken, was da passiert, denn erstens sind wir ja nicht ganz unschuldig an der Misere sind in vielen Ländern, durch unsere Historie aber auch durch unsere Wirtschafts- und Außenpolitik. Zweitens ist kein Land isoliert, alle Probleme werden irgendwann auch einmal die unsrigen. Und drittens: Verdammte Axt! Wir reden über Menschen. Ich meine, Menschlichkeit sollte man jeden Tag aufs Neue leben. Da bringt es nichts, über die Probleme zu reden, stattdessen muss man mit den Menschen reden. Und vielleicht alle zusammen als Weltgemeinschaft – so romantisch entleert das auch klingen mag – an Lösungen arbeiten. Ich glaube aber auch, dass das wegschauen nicht aktiv passiert und nichts damit zu tun hat, dass Menschen böse oder inhuman sind. Für viele Dinge gibt es keine einfachen Lösungen und die Menschen haben sowieso so viel Input an Informationen und Botschaften, dass das ein reiner Selbstschutz ist, sich nicht alles aufzuladen. Es ist viel einfacher, wegzugucken.

Wie schafft man das überhaupt, diese  Frontsituation psychisch zu verarbeiten? Wie geht man mit diesen krassen Erfahrungen um?

Ja, wie wird man die schrecklichen Bilder wieder los… Gar nicht würde ich einfach mal sagen. Etwa 80-90 Prozent der Zeit, die ich in diesen Gebieten bin, sind ganz wunderbare Erfahrungen und Erlebnisse, weil ich mit Menschen zu tun habe, die einfach nur in Frieden leben wollen. Krieg ist ja nicht: du gehst da hin und dann passiert da die ganze Zeit was. In den allermeisten Fällen wartest du auf etwas, oder du fährst ewige Strecken, hängst an irgendwelchen Checkpoints fest. Das ist nicht wie im Film, das eigentliche Gefecht tobt nicht die ganze Zeit und überall. Sondern in den seltensten Fällen passiert das dann und du bist dann auch an dem Ort, wo es knallt. Mir hilft ganz massiv, dass ich in den meisten Fällen nicht im Gefecht bin. Da gibt es auch viele Bilder, die man nicht gemacht hat, weil man sich selbst sagt, komm jetzt lass mal das Fotografieren sein und jetzt gehst du einfach mal ein bisschen Kicken mit den Jungs im Camp oder ein bisschen rumalbern mit den Kindern oder einen netten Tee trinken mit den Älteren. Und natürlich, diese Menschen haben auch ihre Kriegsgeschichten und Spuren in den Gesichtern und an den Körpern. Die vergisst man nicht wieder.

Zurück in Deutschland nach so einem Aufenthalt: Wie nimmt man die eigene Heimat wahr?

Ich wohne in München, das ist der Wellness-Kokon des weltweiten Spa-Bereichs. Und wenn man dann am eigenen Körper erlebt hat, dass man nur fünf Flugstunden von einem der Krassesten Kriegsgebiete entfernt ist, das ist schon skurril. Da muss man sehr diszipliniert sagen, hier ist hier und dort ist dort. Es bringt nichts, die Probleme von dort ins hier mitzunehmen und den Leuten mit erhobenem Zeigefinger entgegen zu treten und zu sagen, „wenn ihr wüsstet, wie gut wir es alle haben“. Das löst berechtigterweise Reaktanz aus. Was man hingegen machen kann, ist, zu versuchen, ein bisschen Reflektion zu inspirieren und zu ermuntern, statt einzufordern. Sonst baut man eher noch Mauern auf. Es ist ja nicht so, dass die Leute hier keine Probleme hätten. Die sind relativ gesehen natürlich marginal, aber aus der Perspektive des Problem-habenden, ist dann halt eine Abgabe für eine Projektarbeit auch ein existenzielles Problem. Wir können nichts dafür, dass wir hier aufgewachsen sind und sie können nichts dafür, dass sie dort aufgewachsen sind.

 

Kurdistan © Johannes Müller

Vielen Dank für die Eindrücke!

Das Interview führte Ladyna.


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