Deutschland gibt sich in der gegenwärtigen EU-Schuldenkrise als untadeliger Schuldenbremser. Dabei sind seine historischen Schulden gegenüber Griechenland mit Geld kaum zu erfassen.
von David
Im Februar 2010 forderte der griechische Vize-Premierminister die Deutschen auf, den Griechen für die „Zwangsanleihe“ während des Zweiten Weltkriegs wenigstens zu danken. Bundesregierung und öffentliche Meinung reagierten empört – wurden doch die Griechen gerade erst dank deutscher Bemühungen als „Betrüger in der Euro-Familie“ entlarvt. Und trotzdem wagten sie es, ohne Bezug zur aktuellen Schuldenkrise und (scheinbar) grundlos, die „Nazikeule“ zu schwingen. Die angesprochene „Zwangsanleihe“ war die Plünderung von umgerechnet 476 Millionen Reichsmark (heute wären das fünf Milliarden Euro) aus der griechischen Nationalbank durch die deutschen Besatzer. Im Gegensatz zum NS-Staat selbst erkannte keine seiner Nachfolgeregierungen diese Kreditschuld an. Und sie sahen jahrelang wenig Grund, für die nationalsozialistischen Kriegsverbrechen in Griechenland die Konsequenzen zu tragen.
Zur Erinnerung: Kein nichtslawischer Staat hat unter der deutschen Besatzung so gelitten wie Hellas. Nur wenige Länder haben einen größeren Anteil ihrer jüdischen Gemeinde verloren. Massaker an Zivilisten wie etwa im Dorf Distomo, in welchem die SS am 10. Juni 1944 über 200 Frauen, Greise und Kinder grausam ermordete, waren integraler Bestandteil des Besatzungsalltags. Bis heute wurde jedoch niemand für Kriegsverbrechen in Griechenland von einem deutschen Gericht verurteilt: Alle Verfahren wurden eingestellt oder die Beschuldigten freigesprochen.
Zwischen „Endlösung“ und Kaltem Krieg
Deutschland war schon vor dem Ersten Weltkrieg der Haupthandelspartner Griechenlands. Nach dem Zweiten Weltkrieg wollte sich Hellas daher mit der Bundesrepublik wirtschaftlich und politisch gut stellen. So übergab der griechische Generalstaatsanwalt zwischen 1952 und 1956 alle griechischen Akten über deutsche Kriegsverbrecher an das Bundesjustizministerium und suspendierte alle laufenden Verfahren. Die griechische Erwartung, dass in Deutschland Prozesse eröffnet würden, wurde jedoch enttäuscht. Vielmehr lehnte das Justizministerium Ermittlungen über vor „mehr als 10 Jahren angeblich begangenen Verbrechen“ ab, während das Auswärtige Amt – wörtlich! – auf eine möglichst schnelle „Endlösung des sogenannten Kriegsverbrecherproblems“ drängte.
Um der Öffentlichkeit eine Suspendierung der Kriegsverbrecherverfolgung politisch zumuten zu können, bat die griechische Regierung die BRD 1956 darum, wenigstens Verhandlungen über Entschädigungen für Opfer von Kriegsverbrechen aufzunehmen. Diese mündeten im März 1960 in einem Abkommen: Die Bundesrepublik verpflichtete sich, 115 Millionen D-Mark Entschädigung für griechische Opfer nationalsozialistischer Verfolgungsmaßnahmen zu zahlen. Der Weg bis dahin war von haarsträubenden Widerständen der Bundesregierung geprägt. So zweifelte ein Ministerialbeamter während der Verhandlungen die Existenz von Konzentrationslagern in Griechenland an. Das Auswärtige Amt riet hingegen der griechischen Regierung, die sich zur gleichen Zeit um eine Assoziierung ihres Staates mit der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft bemühte, diese „nicht durch übermäßige Wiedergutmachungsansprüche zu erschweren“. Erst als die DDR den Hellenen eine Entschädigung zum Preis der diplomatischen Anerkennung anbot, forcierte die westdeutsche Seite plötzlich die Verhandlungen und wurde sogar großzügiger als geplant. Für die BRD war daher das Entschädigungsabkommen mehr eine erfolgreiche Maßnahme zur Verteidigung der freien Welt vor dem Kommunismus als ein Zeichen der Reue für Kriegsverbrechen.
„Ad calendas graecas“
Die Plünderung Griechenlands nach dem deutschen Einmarsch hatte zur Zerrüttung der griechischen Wirtschaft und zu einer mörderischen Hungersnot geführt. Die BRD verweigerte jedoch mit Hinweis auf das Londoner Schuldenabkommen von 1953 kategorisch Reparationsverhandlungen. Das Abkommen hatte die Reparationsfrage bis zum Abschluss eines Friedensvertrags bzw. bis zur deutschen Vereinigung aufgeschoben. Es diente der Bundesregierung fast vierzig Jahre lang als Argument, um Verhandlungen „ad calendas graecas“ – bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag – zu vertagen, so wörtlich ein deutscher Diplomat. Nach 1990 sah sich die BRD gezwungen, ihre Begründungen gegenüber der griechischen Regierung zu ändern: Die Reparationsfrage brauche keinerlei Erörterung, da sie sich „durch Zeitablauf erledigt“ habe. Sie bleibt bis heute offen.
In den 1990er Jahren klagten viele Opfer von Kriegsverbrechen individuell gegen die BRD auf Entschädigungen. Die deutsche Haltung blieb stur. Noch 1995 teilte die Bundesregierung Griechenland mit, dass „Vergeltungsaktionen wie gegen das Dorf Distomo“ keine NS-Verbrechen gewesen seien, sondern „Maßnahmen im Rahmen der Kriegsführung“ gegen Partisanen. Diese könnten deshalb nicht entschädigt werden, sondern fielen in den Fragekomplex der Reparationen. Wie praktisch, dass dieser sich schon erledigt hatte. Die Bundesregierung argumentierte damit ganz in der Linie deutscher Gerichte, die Massaker in griechischen Dörfern schon seit den 1950er Jahren als „völkerrechtliche Notwehr“ legitimierten. Als jedoch 1997 ein griechisches Gericht die BRD zur Zahlung einer Entschädigung von umgerechnet 60 Millionen D-Mark an Hinterbliebene des Massakers von Distomo verurteilte, klagte die deutsche Regierung dies lautstark als völkerrechtlich illegitim an. Für Empörung sorgte auch die geplante Pfändung deutscher Einrichtungen in Athen, deren Erlös den Opfern zukommen sollte. Der Streit wurde vorläufig beigelegt, als das griechische Justizministerium die Pfändungen verbot. Der Fall wird aber immer noch beim Internationalen Gerichtshof in Den Haag verhandelt.
Politische (Un)kultur
Die deutsch-griechischen Konflikte über den Umgang mit Kriegsverbrechen sind nur oberflächlich gesehen finanzieller Art. Es geht vielmehr um politische Kultur. Die bundesdeutsche Haltung gegenüber Griechenland besteht seit über einem halben Jahrhundert darin, Kriegsverbrecher offen zu schützen, Opfer juristisch und politisch zu verhöhnen und die Regierung nach Belieben mit wirtschaftlichen Drohungen zu erpressen. Besuche von Bundespräsidenten bei griechischen Gedenkveranstaltungen sind bisher eher die positive Ausnahme von der Regel. Die Griechen nehmen vielmehr wahr, dass deutsche Schundblätter und -magazine sie im Zuge der europäischen Schuldenkrise mit NS-Jargon beschimpfen. „Land der Nichtstuer, Schieber und Korrupteure“, so sprach der General, der das Massaker von Kalavryta am 13. Dezember 1943 anordnete. Es ist politisch sicher unreif, wenn griechische Medien die BRD als „Viertes Reich“ bezeichnen – angesichts der Vorgeschichte(n) ist es aber nicht völlig verwunderlich.
Der Vorschlag von Sigrid Skapelis-Sperk, der Vorsitzenden der Vereinigung Deutsch-Griechischer Gesellschaften, aus der deutschen Schuld der „Zwangsanleihe“ eine Investition in einen deutsch-griechischen Zukunftsfonds zu machen, ist lobenswert – lenkt er doch die Aufmerksamkeit von aufgeregten Geldproblemen hin zu Fragen verantwortungsvollen Zusammenlebens. Doch der griechische Historiker Hagen Fleischer merkt zu Recht an, dass dafür die Bundesregierung anfangen müsste, die Griechen, ihre Geschichte und ihre Befindlichkeiten ernst zu nehmen. Bislang gibt es dazu jedoch kaum Anzeichen. Trotz „Zeitablaufs“.
PS: Eine anschauliche Infografik zu Deutschlands Schuldenstand findet ihr (mit freundlicher Genehmigung von GeVestor) hier!
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