Nachtrag: Die Kontroverse aus dem Jahr 2009 um das Interview könnt ihr hier nachlesen:
http://www.fabik-packt-aus.tk/
Eine damalige Stellungnahme zum Interview findet ihr hier.
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Der palästinensische Journalist Khalid Amayreh im Gespräch.
von fabik
In unserer Nahostserie wollen wir unbefangen Opfer und Täter zu Wort kommen lassen; sowohl Menschen, die vom Konflikt beeinflusst wurden als auch jene, die ihn beeinflusst haben; Menschen, die sich aus unterschiedlichsten Motivationen für die Region interessieren und Menschen, die jegliche Hoffnung längst verloren haben. Für diese Ausgabe sprachen wir mit dem palästinensischen Journalisten Khalid Amayreh über die Hamas und seine persönliche Sicht auf den Nahostkonflikt.
Khalid Amayreh wurde 1957 in Hebron geboren. Weil israelische Truppen seine Familie 1948 enteignet und ihre Wohnhäuser abgerissen hatten, lebte er mit ihr – wie viele andere Familien – jahrelang in Zelten und Höhlen in den Hügeln südlich von Hebron. Mit 14 arbeitete er in Israel als Bauarbeiter und lernte dort Hebräisch. Nachdem er 1974 während einer Demonstration gegen die israelische Besatzung von Soldaten fast totgeschlagen worden wäre, emigrierte er zwei Jahre später in die USA, studierte dort Journalismus und kehrte 1983 nach Palästina zurück. Dort begann er seine journalistische Karriere. Als Korrespondent und freischaffender Journalist arbeitete er u.a. für die staatliche iranische Nachrichtenagentur „IRNA“, die Kairoer Wochenzeitung „Al-Ahram“, die „Palestinian Times“ und „Al-Jazeera“ und schreibt heute für das Hamas-nahe „Palestinian Information Center“. Aufgrund seiner offenen Kritik an der israelischen Besatzungspolitik und der Politik der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) steht er seit den Anfangsjahren seiner Karriere unter Beobachtung des israelischen Geheimdienstes, wurde mehrmals inhaftiert und stand jahrelang unter Hausarrest. Aufsehen erregte zuletzt seine Verhaftung im Januar 2009, nachdem er der PA in einem Fernsehinterview vorgeworfen hatte, Demonstrationen in der Westbank aus Verpflichtung gegenüber Israel zu verbieten und die PA als „Dienerin Israels“ bezeichnet hatte. Erst nach massiven medialen Protesten wurde er wieder freigelassen. Amayreh lebt heute mit seiner Frau und seinen Kindern in Dura und schreibt an seinem vierten Buch „Leben unter der israelischen Besatzung“.
UNIQUE: Soweit sie das einschätzen können, wo sieht die Hamas die Ursachen des Nahostkonflikts?
Amayreh: Ich kann nicht in Anspruch nehmen, die Hamas zu repräsentieren. Als normaler Palästinenser glaube ich aber, dass die Kernursache für den Konflikt im Nahen Osten das Einpflanzen Israels in Palästina durch den Westen ist – einem seit dem 7. Jahrhundert arabischen Land. Der Westen hat einfach die Rechte eines Volkes über die eines anderen gesetzt. Faktisch hat dies zur Zerstörung der palästinensischen Gemeinschaft, zur Vertreibung und Zerstreuung eines Hauptteils des palästinensischen Volkes in die vier Himmelsrichtungen geführt. Natürlich kamen die europäischen Juden, die unter der Verfolgung europäischer Staaten litten, nicht mit dem Motto „Leben und leben lassen“ nach Palästina, sondern um die indigene muslimische und christliche Bevölkerung zu verdrängen und zu ersetzen. Sie wollten ein Land ohne Volk für ein Volk ohne Land. Sie wollten dem Zionismus, einer rassistischen Bewegung im Stile der faschistischen Ideologien Europas nach dem 18. Jahrhundert, gerecht werden. Palästina war seit jeher bevölkert, und die Zionisten wussten dies von Anfang an.
Können Sie uns in drei Punkten konkret sagen, wie die Hamas den Konflikt im Nahen Osten lösen möchte?
Allein aus religiösen und moralischen Gründen kann und wird Hamas die Legitimität Israels niemals anerkennen. Letzten Endes wurde der israelische Staat auf Kosten des palästinensischen Volkes errichtet – ohne die ethnischen Säuberungen, die Massaker und die zügellosen Zerstörungen palästinensischer Bevölkerungszentren nach 1948 wäre das nicht möglich gewesen. Kurz gesagt: Um einen Frieden zu erreichen, muss der Zionismus als eine von Natur aus rassistische, segregierende und trennenden Struktur abgelehnt werden. Aus dieser Perspektive glaube ich, dass die Hamas weder eine werte- noch menschenverneinende Bewegung ist. Hamas könnte einen Staat im ganzen Palästina-Israel akzeptieren, in dem alle Bürger ungeachtet ihrer Religion und Rasse gleich behandelt werden würden. Dies wäre die ultimative Lösung des arabisch-israelischen Konfliktes. Bevor so ein Staat errichtet werden könnte, müsste natürlich jedes gestohlene und beschlagnahmte Eigentum und jedes konfiszierte Land an seine rechtmäßigen Bewohner zurückgegeben werden. Flüchtlinge müssten in ihre Heimat zurückkehren dürfen. Einfach gesagt, die universalen Prinzipien von Gerechtigkeit, Gleichheit und menschlicher Würde müssten Anwendung finden.
Was würde es für die Juden in Tel Aviv, Elat usw. bedeuten, wenn die Hamas das ganze historische Palästina – also inklusive des Gebietes Israels – unter ihre Kontrolle bringen würde?
Das ist eine rein hypothetische Frage! Natürlich ist die Hamas viel zu schwach, um ein atomares Israel, das teilweise auch noch die amerikanische Regierung kontrolliert, zu besiegen. Ich kann mit Sicherheit sagen, dass die Juden ausgesprochen human behandelt werden würden. So ist der Islam. Hamas hat kein Problem mit Juden als Juden. Wir Palästinenser sind gegen den Zionismus, nicht gegen Juden oder das Judentum. Viele Juden unterstützen die palästinensische Sache, und wir bewundern diese gewissenhaften Menschen für ihre moralische Standhaftigkeit.
Nun verweisen aber selbst viele Palästinenser auf die islamistische Ausrichtung der Hamas und befürchten, sie würde einen „Gottesstaat“ ausrufen, in dem eben nicht alle Konfessionen gleiche Rechte haben und persönliche Freiheiten eingeschränkt werden würden …
Solche Ängste sind entweder das Ergebnis von Feindseligkeit gegenüber der Hamas oder das Ergebnis von Ignoranz. Im Allgemeinen erlaubt der Islam keine Diskriminierung von Nicht-Muslimen. Ich glaube, ein islamischer Staat ist besser dafür geeignet, wahre soziale und wirtschaftliche Gleichheit zu fördern als sogenannte demokratische Staaten. Im Westen sind die Stimmungen, Launen und Empfindungen der Masse der ultimative Schiedsrichter. Im Islam ist es die Sharia. Wenn im Westen z.B. die einfache Mehrheit des Parlaments dafür stimmt, ein bestimmtes Land anzugreifen und zu zerstören, wird das so gemacht – ungeachtet der menschlichen und moralischen Konsequenzen. Als die ehemalige US-Außenministerin Madeleine Albright nach den Hunderttausenden Toten infolge der UN-Sanktionen in den 1990er-Jahren gefragt wurde, sagte sie einfach und fröhlich: „Wenn es amerikanischen Interessen diente, war es die Sache wert.“ Westliche Demokratien haben kaum eine moralische Decke, da das Volk der Souverän ist und Moralität eine Variable, keine Konstante ist. Im Islam ist das nicht so. Deshalb denke ich, dass eine wahre islamische Regierung in Palästina oder irgendeinem anderen Land die menschlichen und religiösen Rechten all seiner Bürger wirklich gleich und respektvoll behandeln würde. Ich sage das, weil ein islamischer Staat nicht wirklich ein religiöser, theologischer oder engstirniger Staat wäre. Er wäre vielmehr ein bürgerlicher Staat mit moralischer Decke. Im Islam werden Bürger als Bürger behandelt, ungeachtet ihrer konfessionellen Zugehörigkeiten.
Die Verfasser der Hamas-Charta sahen dies anscheinend etwas anders. Dort werden Juden für so ziemlich alle größeren Verbrechen in der jüngeren Geschichte verantwortlich gemacht: Sie seien verantwortlich für beide Weltkriege, kontrollierten alle imperialistischen Staaten – und die Vereinten Nationen obendrein!
Die Hamas-Charta sollte als religiös-theologisches Dokument und nicht als politische Plattform verstanden werden. Die Hamas hat dies begriffen und sich immer weiter von ihr abgewandt. Die Charta ist heute vollkommen anachronistisch. Seit zehn Jahren habe ich keinen Hamas-Führer auch nur zur Charta Bezug nehmen gehört. Meiner Meinung nach sollte sie als historisches Dokument mit geringer Relevanz behandelt werden. Tatsächlich ist es ratsam, dass ehrliche Leute davon Abstand nehmen, die Charta im politischen Denken der Hamas als etwas von großem Gewicht zu behandeln. Andererseits: Wenn Hamas konstant für seine Charta verdammt wird, könnte sie und andere Muslime sich auch einfach über jüdische Dokumente wie „Chresronot Shas“, „ha’Tanya“ oder die Ideologien jüdischer Parteien beschweren, die offen zur Vertreibung, Versklavung oder Vernichtung von Nicht-Juden in Israel-Palästina aufrufen, beschweren.
Trotz allem bleibt ihre Charta die Achillesferse der Hamas. Warum ändert sie sie nicht einfach, so wie sie es im Jahre 2006 vorhatte?
Ich denke, dass Israel die Charta als Ablenkungsmanöver benutzt, als willkommene Entschuldigung, die Besatzung aufrecht erhalten zu können. Die PLO hatte eine ähnliche Charta, die sie für ungültig erklärte. Doch anstatt sich den palästinensischen Rechten anzunehmen, reagierte Israel auf die neue PLO-Charta mit dem Ausbau jüdischer Siedlungen und der Reduzierung palästinensischer Städte und Dörfer zu Freiluft-Internierungslagern. 2007 beschrieb der deutsche Bischof Gregor Hanke Ramallah mit den folgenden Worten: „Heute Morgen sahen wir Bilder des Warschauer Ghettos in Yad Vashem und heute Abend gehen wir ins Ghetto Ramallah.“ Wie gesagt: Die Charta ist anachronistisch und in weiten Teilen irrelevant, sie sollte im Kontext der Gründungsjahre der Hamas und der politischen Situation ihrer Entstehungszeit verstanden werden. Ich glaube, Hamas ist mittlerweile sehr viel reifer. Warum sie sie nicht ändern? Sie wollen Israel keine kostenlosen Konzessionen machen, wie es Fatah wenig fruchtlos getan hat.
Können Sie trotzdem verstehen, warum die Hamas besonders in Deutschland nicht gerade das beste Image hat, wenn Leute solche Dinge lesen?
Deutschland taumelt unter dem schweren Erbe des Holocausts. Seine Einstellung gegenüber der Hamas ergibt sich v.a. aus dieser Bürde und nicht aus einer objektiven Beurteilung der Lage in Palästina. Die deutsche Regierung bevorzugt es, Israel und den Juden in aller Welt Gefallen zu tun und sie zu beschwichtigen, anstatt den moralischen Standards ihres Volkes zu folgen – welche auch immer das sein mögen. Deshalb kann die deutsche Nahostpolitik als fast vollkommen unmoralisch und unethisch beschrieben werden. Als Nachfolger des Dritten Reichs muss Deutschland Israel unterstützen – egal, ob richtig oder falsch! Und deutsche Politiker sind politisch und moralisch zu unsicher, um der zionistisch-jüdischen Umklammerung der deutschen Politik entgegenzutreten. Genauso verhält es sich beim palästinensisch-israelischen Konflikt.
Neben der Regierung Deutschlands betrachten auch die EU und die USA die Hamas als Terrororganisation …
Wenn die Hamas aus Terroristen besteht, weil sie israelische Zivilisten tötet, dann müsste das für Israel, das wissend und vorsätzlich weit mehr palästinensische Zivilisten tötet, tausendmal mehr gelten. Die israelische Besatzung Palästinas ist ein Vergewaltigungsakt, und gemäß unseren irdischen und den himmlischen Gesetzen hat ein Vergewaltigungsopfer das Recht – ja gar die Pflicht! – Widerstand zu leisten. Israel an sich ist ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit! Somit ist Widerstand gegen dieses kolossale Verbrechen eine moralische Verpflichtung für alle gewissenvollen Menschen. Aber ja, die Hamas hat Dinge gemacht, die nicht hätten geschehen dürfen. Ich bin absolut dagegen, unschuldige Menschen zu töten. Trotzdem bin ich davon überzeugt, dass Israel letztendlich verantwortlich für alle Opfer dieses Konfliktes ist – palästinensische wie israelische.
Die Menschen in Sderot sehen das wahrscheinlich anders …
Ein anglo-amerikanischer Poet [W.H. Auden; Anm. d. Red.] sagte: „I and the public know; what all school children learn, those to whom evil is done, do evil in return.” Also ja, manchmal sind die Opfer gezwungen, sich falsch zu verhalten. Aber letztendlich ist Israel verantwortlich dafür, dass die Opfer damit anfangen. Es ist die schändliche Militärbesatzung, die den Widerstand hervorbringt. Und es ist sehr, sehr schwer, die Wirkung zu entfernen, während die Ursache intakt bleibt.
Auf der anderen Seite warfen viele Palästinenser der Hamas während des jüngsten Gazakriegs Tatenlosigkeit vor. Sie schütze die eigene Bevölkerung nicht ausreichend. Auch in der Westbank ging von der Hamas seit 2003 kaum eine bewaffnete Aktion aus. Wo bleibt der viel gepriesene Widerstand der Hamas gegen die Besatzung?
Diese Propaganda wird häufig von Fatah verbreitet – mit dem Ziel, Hamas zu diskreditieren und herabzuwürdigen. Nichtsdestoweniger wird Hamas dem wütenden israelischen Bullen nicht allein mit physischer Kraft entgegentreten können. Sie würde zerschmettert werden. Die alten Römer sagten: „Könnte der Bulle den Menschen verstehen, würde er nicht mit ihm ringen.“ Gäbe es eine Konfrontation zwischen einer Atommacht wie Israel und einer kleinen, leicht bewaffneten Miliz – die Miliz würde am Ende des Tages erfolgreich sein, wenn sie es schafft zu überleben. Und das hat Hamas geschafft.
Letztendlich bleiben es trotzdem die willkürlichen Raketenangriffe auf israelische Zivilisten, mit denen die Hamas von sich reden macht – ohne dass die „palästinensische Sache“ irgendeinen Vorteil daraus ziehen würde. Bietet man der israelischen Seite so nicht erst recht einen Vorwand, sich jeglichen Verhandlungen zu verwehren und militärische Aktionen zu legitimieren?
Mit ihrer kleinen Miliz stellt die Hamas für Israel keine strategische Gefahr dar. Sie auf eine Stufe mit der israelischen Armee zu stellen, ist dumm und unehrlich. Es wäre ungefähr so, als setzte man jüdische Widerstandskämpfer mit der deutschen Wehrmacht, der SS und der Gestapo im Dritten Reich gleich. Die wahllosen Raketenangriffe sollten als verzweifelte Antwort auf die nazihafte Blockade, welche Israel über Gaza verhängt hat, verstanden werden. Und die Situation kann wirklich mit der Nazi-Belagerung des Warschauer Ghettos verglichen werden. Letztendlich sprechen wir über eine Bevölkerung von Gefangenen. In der Hoffnung, sie werde sich irgendwann gegen ihre demokratisch gewählte Regierung erheben, versucht Israel, ihr die Luft abzuschneiden und sie zu demoralisieren. Nebenbei: Diese angeblichen Raketen sind überwiegend hausgemachte Projektile mit geringer Wirkung. 8.000 dieser sogenannten Raketen töteten zwölf Israelis. Vergleichen Sie dies mit einem F16-Bomber-Angriff auf eine Schule in Gaza im Januar, welcher Dutzende unschuldiger Menschen umbrachte – und Sie werden die enorme Asymmetrie verstehen. Außerdem hat die Hamas wiederholt gefordert, beide Seiten mögen davon absehen, Zivilisten anzugreifen. Doch Israel, welches Tausende palästinensische Zivilisten tötete, hat sich dem beständig verweigert.
Im Jahre 1987 löste der Tod von vier Palästinensern noch jahrelange Unruhen und landesweite Generalstreiks aus – die erste Intifada. Vor drei Monaten tötete die israelische Armee in wenigen Wochen über 1.400 Palästinenser, doch die palästinensische Bevölkerung blieb bis auf wenige Demonstrationen still. Ist die palästinensische Gesellschaft nicht generell widerstandsmüde geworden, müde für ein Ziel zu töten und zu sterben, das immer unerreichbarer wird?
In der Westbank haben Israel und die Vereinigten Staaten einen palästinensischen Polizeistaat ohne Staat errichtet. Die Sicherheitskräfte der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) setzen maßlose Gewalt ein, um Pro-Hamas-Demonstrationen zu verhindern oder zu kontrollieren. Menschen werden verhaftet und misshandelt, weil sie ihre Unterstützung für die Hamas kundtun. Ich selbst wurde für einige Tage verhaftet, lediglich weil ich im Fernsehen sagte, die PA erlaube keine Proteste in der Westbank, um Israel zu beruhigen. Deshalb spiegelt der Mangel an massiven Protesten gegen Israel und für die Hamas in der Westbank weniger einen Mangel an Unterstützung für die Hamas wider, sondern ist Ausruck der Unterdrückung durch der PA. Tatsächlich stieg Hamas’ Beliebtheit in der Westbank nach dem israelischen Krieg in Gaza dramatisch an. Es ist aber wahr, dass die Entfachung einer Intifada in der Westbank momentan schwieriger wäre, da die Protestierenden sowohl den israelischen als auch den palästinensischen Sicherheitskräften entgegentreten müssten.
Sie sprachen die innerpalästinensischen Konflikte gerade an. Manchmal scheint es, als sei momentan nicht Israel, sondern die Fatah der größte Feind der Hamas. Es gibt regelmäßig Massenverhaftungen, Abbas’ Sicherheitskräfte gehen massiv gegen Hamas-nahe Wohlfahrtseinrichtungen vor. Was denken Sie über Palästinenser, die sagen, die nächste Intifada müsste sich zuerst gegen Fatah und die PA richten?
Die Fatah ist nicht monolithisch. Ich denke, bis zu 80 Prozent ihrer Anhänger sind patriotische Palästinenser, die mehr oder weniger derselben politischen Einstellung wie die Hamas folgen. Trotz allem haben diese Menschen recht wenig zu sagen, und Fatah ist nicht demokratisch. Aus Angst, die korrupte und unpopuläre PLO-Führung könnte abgewählt werden, schafft es die Fatah z.B. seit 20 Jahren nicht, ihre sechste Generalversammlung abzuhalten. Das wirkliche Problem besteht aber nicht zwischen Fatah und Hamas, sondern eher zwischen den amerikanisch-unterstützten und von Israel beschützten Quislingen [der Name des norwegischen Faschisten Vidkun Quisling wurde aufgrund dessen Anbiederungsversuchen den Nazis gegenüber zum Synonym für Kollaborateure und Landesverräter; Anm. d. Red.], also den palästinensischen Judenräten einerseits, und dem Rest des palästinensischen Volkes andererseits.
Neben einigen gewaltsamen Aktionen scheint die Hamas in Kairo, Washington, Brüssel oder Tel Aviv in letzter Zeit verstärkt nach Gesprächspartnern zu suchen, um sich so als legitimen Verhandlungspartner zu profilieren. Anderseits lehnte sie bisher den gesamten israelisch-palästinensischen Verhandlungsprozess von Madrid über Oslo bis hin zu Annapolis ab. Macht sie das nicht unglaubwürdig?
OK, den Dialog und gegenseitiges Verständnis mit anderen anzustreben, ist zuerst eine Verteidigung, nicht eine Anklage der Hamas. Die Hamas kümmert sich sehr wohl um die palästinensische Einheit, meint die Versöhnungsbemühungen mit der Fatah ehrlich und nimmt sie sehr ernst. Trotzdem wird und kann die Hamas nicht den bankrotten Weg des Oslo-Prozesses einschlagen. Die PA ging diesen Weg seit 1993. Die Ergebnisse sind mehr jüdische Siedlungen, ein judaisiertes Ostjerusalem, mehr Apartheid und mehr nazihafte Massaker an palästinensischen Zivilisten, wie wir es erst kürzlich in Gaza mit ansehen mussten.
Trotz aller Bemühungen weigern sich Israel und das sogenannte Nahost-Quartett aber bis heute, Gespräche mit der Hamas zu führen, u.a. weil diese das Existenzrecht Israels nicht anerkennt. Was hält die Hamas davon ab?
Das Konzept eines staatlichen Existenzrechts besteht im Völkerrecht nicht. Staaten existieren – das ist alles! Erkennt Deutschland z.B. das Existenzrecht Myanmars an? Ist solch eine Klausel irgendwo niedergeschrieben? Darüber hinaus, warum sollte die Hamas Israel anerkennen, wenn Israel nicht das Recht eines palästinensischen Staates anerkennt? Würde Deutschland einen Staat anerkennen, der Deutschland nicht anerkennt? Abgesehen davon, welches Israel würde die Hamas anerkennen? Israel mit der Westbank? Israel mit Ostjerusalem? Israel mit den Schebaa-Farmen im Südlibanon? Israel mit den Siedlungen? Oder vielleicht Israel mit Jordanien? Oder vielleicht Israel mit Ägypten und Libanon und Syrien und Süd-Saudi-Arabien? Ich sage das, weil es eine Menge rabbinischer Autoritäten gibt, die lehren, dass Großisrael laut der Bibel von der Südtürkei bis Zentralägypten und von der Insel Kreta bis zum südlichen Iran reiche. Ein anderer Punkt ist, dass die Hamas kein Staat ist und nur Staaten einander anerkennen können. Letztendlich bleibt Israel ein offenkundig verbrecherischer Staat. Haben verbrecherische Regime ein Existenzrecht? Hatte das Dritte Reich ein Existenzrecht? Hatte das stalinistische Regime, das Millionen, wahrscheinlich Dutzende Millionen Menschenleben ausgelöscht hat, ein Existenzrecht? Wenn Juden oder irgendwer sonst denkt und handelt wie Nazis, werden sie auch zu Nazis. Und meiner Meinung nach haben Nazis kein Existenzrecht, v.a. dann nicht, wenn sie auf ihrer bösartigen Ideologie beharren. Und Israel tut dies offensichtlich!
Andererseits scheint sich auch die Hamas langsam mit den Fakten abzufinden. Anfang des Jahres 2008 erkannte sie „Israels Recht, in Frieden zu leben“ an. 2006 nahm sie an Friedenskonferenz der Arabischen Liga teil, auf der die Anerkennung Israels in Aussicht gestellt wurde. Auch beteuern hohe Hamas-Funktionäre seit Jahren ihre Bereitschaft zu einem dauerhaften Waffenstillstand, sollte Israel sich aus den 1967 besetzten Gebieten zurückziehen. Hat die Hamas sich insgeheim nicht längst mit der Existenz Israels abgefunden?
Die Hamas – so wie der Rest der Welt auch – erkennt die physische Präsenz Israels an. Trotzdem glaubt sie nicht, Israel habe irgendeine moralische Legitimität, da dessen bloße Existenz auf der ethnischen Säuberung des palästinensischen Volkes basiert. Israel ist eine Vergewaltigung seit seinem ersten Tag, ist immer noch eine Vergewaltigung, und wird dies auch immer sein. Nichtsdestotrotz ist die Hamas bereit, mit Israel einen zeitlich unbegrenzten Frieden zu schließen, wenn es sich zu 100 Prozent aus den 1967 besetzten Gebieten inklusive Ostjerusalem zurückzieht und zustimmt, das Flüchtlingsproblem im Sinne der UN-Resolution 194 zu lösen.
Ein weiterer Bestandteil der Hamas-Bewegung ist ihr umfassendes soziales Netz. Während Kritiker es als Instrument bezeichnen, um Menschen religiös zu indoktrinieren und Nachwuchs für die Bewegung zu akquirieren, preisen es andere als elementare für das palästinensischen Bildungs- und Gesundheitssystem. Welche Bedeutung haben diese Einrichtungen für die palästinensische Gesellschaft?
Wohltätig zu sein und den Armen zu helfen sind wesentliche Aspekte des Islam. Prophet Muhammed, Frieden sei auf ihm, sagte: „Es ist kein Gläubiger, der seinen Tag mit vollem Bauch verbringt, während sein Bruder hungrig bleibt.“ Die Hamas hilft den Armen im Kontext dessen und um für Tugendhaftigkeit in einer überwiegend muslimischen Gesellschaft zu werben. Die Hamas tut dies nicht, um politische Unterstützung zu ernten, wie viele im Westen fälschlicherweise denken. Die Hamas tut es aus rein selbstlosen Gründen. Es ist eine Frage der Religion, nicht der Politik. Letztendlich unterstützen Palästinenser die Hamas eher aus religiösen statt aus politischen Gründen.
Mit Benjamin Netanjahu und Avigdor Lieberman stehen seit Kurzem zwei politische Hardliner der israelischen Regierung vor, welche die Schaffung eines palästinensischen Staates kategorisch ausschließen. Wie schätzen Sie persönlich die Chancen auf einen Frieden im Nahen Osten ein?
Die Netanjahu-Regierung ist zweifellos die rechteste in der Geschichte Israels. Es ist eine Regierung aus verbrieften Kriegsverbrechern, rassistischen Rowdys und religiösen Fanatikern. Somit ist es recht unwahrscheinlich, dass es mit dieser Regierung irgendwelche Fortschritte in dieser Richtung geben wird. Ich denke, die Zwei-Staaten-Lösung ist tot. Die Chancen für die Errichtung eines lebensfähigen palästinensischen Staates sind nahe null, v.a. aufgrund des krebsartigen Wachsens rein jüdischer Siedlungen. Es gibt in dieser Hinsicht somit nur zwei Alternativen: Entweder einen einheitlichen Staat für alle, in welchem Araber und Juden mit gleichen Rechten leben – oder der offene Konflikt.
Vielen Dank für das Gespräch!
Das Spiel mit der Verharmlosung – Ein Kommentar
Nazivergleiche gehören seit jeher zu den Unarten politischer Rhetorik: Bundestagspräsident Wolfgang Thierse wurde durch Helmut Kohl zum neuen Hermann Göring, George W. Bush zum „Adolf-Nazi“ (Zitat von Herta Däubler-Gmelin) und Massentierhaltung zum „Holocaust auf dem Teller“ (Peta-Slogan). Nazivergleiche vermögen es, den politischen Gegner ultimativ zu stigmatisieren. Sie garantieren Provokation und verleihen dem rhetorisch unfähigsten und bedeutungslosesten Politiker endlich Aufmerksamkeit. Doch bei aller historischer Unkenntnis, bei aller geschichtsverklärender Leichtfüßigkeit, die sich hinter der fehlenden Sensibilität verbirgt, steckt oft mehr, als reine Geschmacklosigkeit dahinter: Der gläubige Christ, der nach seinem Werteverständnis deutsche Abtreibungsgesetzgebung als „Babycaust“ begreift; der Friedensaktivist, der den Kosovokrieg in die historische Kontinuität 100 Jahre deutscher Balkanpolitik stellt; der ukrainische Nachkomme eines „Hunger-Holocaust“-Opfers … Ungeachtet dessen, ob man ihre Meinung teilt, steht bei ihnen allen mehr dahinter, als die bloße Lust am Provozieren.
Sicher kann man sich, moralisch zurücklehnend, darauf beschränken, seinem Gegenüber vorzuwerfen, das Schicksal von Millionen für die eigenen politischen Ziele zu missbrauchen. Doch wird man so der Angst und Hoffnunglosigkeit, der Ohmacht und Verzweiflung, die ihn – warum auch immer – antreibt gerecht? Keine Frage: Nazivergleiche relativieren Opferleid. Doch die Positionen des Gegenübers mittels bloßen Verweises auf seine Rhetorik zu deligitimieren, tut dies oft ebenso.
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