Die letzten Wintertage in Budapest: Kalter Wind weht durch die Straßen der Hauptstadt, aber an der ältesten und renommiertesten Universität Ungarns sind die Gemüter erhitzt, die Stimmung ist angespannt. Eine ungarische Studentin schildert ihre Sicht der Situation.
von Zsófia Turóczy
Seit Mitte Dezember 2012 protestieren Studenten und Dozenten der Universität ELTE (Eötvös Lorànd Tudomànyegyetem, zu deutsch: wissenschaftliche Universität) in Budapest gegen die sinnlosen und sozial ungerechten Hochschulreformen der ungarischen Regierung. Seit Februar halten die Studenten das Auditorium des Hauptgebäudes besetzt.
Ich betrete den Hörsaal, in dem ich selbst viele Vorlesungen besucht habe. Jetzt werden hier seit einer Woche keine Vorlesungen mehr gehalten, der Hörsaal wurde zum Hauptquartier der inoffiziellen Studentischen Organisation, der Hallgatói Hálózat (zu deutsch: studentisches Netzwerk, kurz: HaHa) und damit zum Zentrum und Ausgangspunkt der studentischen Proteste.
Für heute Nachmittag ist wieder eine Demonstration angekündigt. Kurz vor Beginn betreten mehrere Leute mit Mappen den Raum. Sie seien vom NNI, dem „Zentralen Ermittlungsbüro”, laut der offiziellen Internetseite der ungarischen Polizei ermittelt dieses primär in Fällen von Menschen- oder Drogenhandel, organisiertem Verbrechen, Steuerhinterziehung. Die Herrschaften vom NNI wollten die Studenten auf einige rechtliche Konsequenzen hinweisen, um Straftaten vorzubeugen und deswegen mit einigen „Betroffenen“ reden.
Die Ermittler versuchen kurz darauf, die Studenten zu verhören. Die persönlichen Daten der Studenten, die eine Aussage verweigern, werden aufgeschrieben; es wird mit Vorladungen gedroht. Wozu dieser Eifer? Man habe Anzeige erstattet, da die Studenten eine Brückenbesetzung planen, was, wegen der Blockierung des Verkehrs, eine Straftat sei. Deshalb wurden die Ermittler an die Uni geschickt. Unruhe liegt in der Luft. Die Ermittler verlassen erst gegen Abend den Raum. Schnell verbreitet sich die Nachricht in den Medien; man spricht von Einschüchterungsversuchen seitens der Staatsgewalt.
Mit einer halben Stunde Verspätung beginnt die Demonstration, begleitet von einer Menge Polizisten. Die Studenten und Schüler skandieren kritische Parolen: „Unsere Zukunft gehört schon der Vergangenheit”; „freies Land, freie Universität”. Doch warum sind die Studenten eigentlich so sauer auf die Regierung?
Die „Hochschulreformen“
Die Geschichte begann Anfang Dezember damit, dass eine Information über die neuen Zahlen der staatlich vollfinanzierten Studienplätze, also die Studienplätze ohne Studiengebühren, durchsickerte: Diese sollen im Jahr 2013 von 27.750 auf 10.480 sinken. Bereits im Vorjahr wurden sie von 45.000 auf 27.750 reduziert. Daraufhin begannen die Studenten, sich zu organisieren, Foren zu bilden und zu demonstrieren. Die erste Demonstration mündete in eine Brückenbesetzung und das Parlament wurde von den wütenden Studenten umringt. An die offizielle studentische Organisation HÖOK (Hallgatói Önkormányzat Országos Képviselete, zu deutsch: Die landesweite Vertretung der studentischen Organisation) und die nichtoffizielle, von Seiten der Regierung für illegal und anarchistisch erklärte Studentenbewegung HaHa knüpften sich schnell andere Organisationen der Schüler, Lehrer und Dozenten und eine lebhafte Diskussion über das Thema begann.
Seit Dezember 2012 ändert die Regierung immer wieder ihren Standpunkt, konsultiert die Fachleute nicht, sondern geht auf einem Weg, der von der europäischen Richtlinie stark abweicht, während Zoltan Balog, Minister für „Humanressourcen“, nur schwammige Verlautbarungen macht. Der Widerstand breitete sich auf das ganze Land aus. Von der Regierung und den regierungsnahen Medien wird das Problem vereinfacht und auf den drastischen Studienplatzabbau reduziert. Dieser war aber nur die Spitze des Eisberges, den die Hochschulreform in den Augen der Studenten darstellt: Parallel zum Abbau der Vollstipendien soll die Anzahl von teilfinanzierten Studienplätzen von derzeit 5.000 auf 46.300 angehoben werden, womit fast jeder Studienplatz eine staatliche Teilfinanzierung bekäme. Der Haken dabei: „Jeder Begünstigte irgendeines staatlichen Zuschusses“ muss sich vertraglich dazu verpflichten, nach dem Abschluss das Doppelte seiner Studienzeit im Lande zu arbeiten. Andernfalls hat er gesamten Kosten der Ausbildung selbst zu tragen.
Die Regierung begründet diesen „Bleibezwang“ auf Basis einer nationalen Moral: Wer sein Studium durch den Staat finanziert bekommt, ist dem Staat etwas schuldig. Das kann zwar auf den ersten Blick berechtigt klingen, aber diese Regelung verstößt nach Auffassung der EU gegen Grundrechte der Gemeinschaft. Außerdem gibt es in Ungarn schlicht nicht genügend adäquat bezahlte und qualifizierte Arbeitsplätze für akademische Berufseinsteiger. So müsste die zukünftige Elite unter schlechten Umständen für schlechten Lohn zwangsweise in Ungarn arbeiten. Eine HaHa-Aktivistin erzählt mir: „Vor allem von Ärzten weiß man, dass sie das Land verlassen. Ich habe auch einen Bekannten, der Arzt ist. Nach seinem bestandenen Rigorosum kriegt er 80.000 Forint monatlich [etwa 350 €], arbeitet 14 Stunden pro Tag und muss daneben noch einem Studentenjob nachgehen, denn er kann aus seinem Gehalt nicht leben. Er bekommt aus dem Ausland Jobangebote, die natürlich sehr reizvoll sind und daher kann ich ihn sogar verstehen, wenn er nicht in Ungarn bleiben will.“
Zynische Zungen meinen sogar, dann sollten auch die Leute, die einen Beruf erlernt haben, einen Vertrag mit dem Staat unterschreiben, denn es mangelt an guten Facharbeitern. Viele davon haben schon das Land verlassen und verdienen in Österreich, Deutschland und den Niederlanden ein Vielfaches mehr.
Das Problem hat gewaltige Ausmaße. Komplette Fachbereiche könnten für die sozial schwächeren Schichten unzugänglich werden, da Studienplätze aus den Bereichen Recht und Wirtschaft nicht mehr staatlich mitgefördert werden. Gefördert werden ausschließlich Technologie, IT, Landwirtschaft und Medizin. Mehrere Milliarden Forint Unterstützung wurden aus dem System gestrichen, sodass manche Universitäten kaum noch Geld für Strom und Papier haben. Zwar hat die Regierung mit der HÖOK eine Teilvereinbarung unterschrieben. In wichtigen Punkten hat die Fidesz (die Regierungspartei mit Zweidrittel-Mehrheit) die studentische Organisation jedoch reingelegt: Mitten in den Verhandlungen wurde das Grundgesetz zugunsten der Studentenverträge geändert und von der Regierung ernannte Kanzler eingesetzt, die das Wirtschaften der Universitäten überwachen sollen. Damit wurden die weiteren Verhandlungen sinnlos. Zudem wurden kürzlich Entlassungen von Fachkräften angekündigt. Betroffen ist vor allem die geisteswissenschaftliche Fakultät, an der damit das Weiterexistieren kompletter Studiengänge in Gefahr gerät.
Winterrosenrevolution
Die „Seele“ der Bewegung ist die HaHa, eine basisdemokratische, inoffizielle studentische Organisation. In ihr gibt es keine Hierarchie, sondern Arbeitsgruppen und Forumsabstimmungen. Sie halten seit dem 11. Februar den großen Hörsaal an der geisteswissenschaftlichen Fakultät der Eötvös Loránd Universität (ELTE) besetzt. „Wir sind mit der Demokratie aufgewachsen und haben keinen anderen politischen Grund, auf den wir bauen könnten. Die Regierung aber versteht uns und unsere Vorgehensweise einfach nicht oder ist damit nicht einverstanden“, fasst Fruzsina Farkas, eine HaHa-Aktivistin, zusammen. „Wir möchten gar nicht alle im Ausland arbeiten. Ich selbst möchte ausdrücklich in Ungarn studieren und leben, sehe dazu aber unter den gegebenen Umständen gar keine Möglichkeit.“
Den Kampf um ein besseres Hochschulsystem nennen die Schüler und Studenten die „Winterrosenrevolution“, ein Gegenpol zu Rózsa ‚Rose‘ Hoffmann, der ehemaligen Bildungsministerin. Die Studenten haben ihre Forderungen in sechs Punkten klar formuliert und mit Fachleuten ausgearbeitet. Sie wollen ein sozial offenes, überwiegend staatlich finanziertes Hochschulsystem, Mitsprache bei Reformen, Hochschul-Autonomie ohne von der Regierung gesteuerte Kanzler, die Rücknahme der Studienverträgen (Bleibezwang) und der Streichung der Zuschüsse für die Hochschulbildung. Die Reform soll den Zugang zur Hochschulbildung der unteren Schichten sichern.
Die Studenten und Schülern sind entschlossen und zäh: Sie geben den Hörsaal und damit ihre Forderungen nicht auf, bis die Regierung ihre unverschämten „Reformen“ revidiert. Die Regierung geht mit der HaHa und der KöHa (der Organisation der Schüler) um, als wären sie rebellische Kinder, die man nur zur Disziplin erziehen müsse. Die Regierung denkt nicht daran, dass diese Jugend die zukünftige Elite des Landes und die Wählerschaft der nächsten Parlamentswahlen im Jahr 2014 sein wird.
„In Europa gibt es nur unter der weißrussischen Diktatur einen Bleibezwang für Studenten. Allein die Idee, etwas Ähnliches in Ungarn, das ein EU-Mitglied ist, durchzusetzen, halte ich für höchst problematisch. Die jungen Menschen zwangsweise im Land zu halten ist keine Lösung. Die Lösung ist, neue Arbeitsplätze zu schaffen“, sagt die Aktivistin Fruzsina. Diese Jugendlichen und junge Erwachsen sind intelligent und selbstbewusst, sie wollen nicht dafür demonstrieren, das Land nach der Erwerbung des Diploms zu verlassen, sondern weil sie auf ihren Rechten bestehen: Recht auf Freiheit und freie Entscheidung. Wie Balázs Hájos, ein Gymnasiast während der Demonstration formuliert: „Das ist die wirkliche Geburtsstunde der Demokratie in Ungarn, jetzt tritt die Generation auf, die dazu fähig ist, die Demokratie zu vertreten.“
Die zynische Reaktion der Regierung und die Zukunft
Um das Problem der Studentenproteste möglichst schnell zu beheben, täuschte Premierminister Viktor Orbán kurz vor Weihnachten 2012 einen Dialog vor. Schließlich war jedoch nicht mehr zu leugnen, dass dieser nur mit der Parteijugend der Fidesz stattfand. Im Januar lud zuständige Rózsa Hoffmann die Delegierten der Schülerorganisation KöHa ein und hörte ihre Forderungen an. Am Ende des Gespräches teilte sie Schokolade unter ihnen aus, um Frieden zu stiften. Vor wenigen Tagen wurde ein Ex-Rektor der ELTE zum Nachfolger von Rózsa Hoffmann als Staatssekretär für die Hochschulbildung eingesetzt. Seine Antrittsrede lässt allerdings kaum eine Öffnung gegenüber den Forderungen der Studenten erwarten. Sein Auftrag ist, wie sein Auftreten belegt, nicht die Vermittlung, sondern die Aufhebung jeglichen Widerstandes gegen die Hochschulreform und die Disziplinierung der Hochschulleitungen. Die Besetzer geraten derweil in eine schwierige Situation. Von anderen Studenten werden sie als Unruhestifter bezeichnet. Sie suchen verzweifelt nach Verbündeten. Die Studenten, die Dozenten, wie das ganze Land, sind gespalten.
Anfang März bildeten Studenten eine „lebende Kette“ um den Campus der geisteswissenschaftlichen Fakultät und die Universität für Wirtschaft, um die Entlassung vieler Professoren zu verhindern.
Vor einigen Tagen haben sich die HaHa und die Leitung der ELTE geeinigt: Die HaHa bekommt von der Universität einen Raum zur Verfügung gestellt und auf den Plattformen der ELTE eine entsprechende Öffentlichkeit. Diese Einigung wird die Diskussion in offizielle Bahnen führen, aber bedeutet noch keine Annäherung zwischen Regierung und Studenten. Die „Hochschulreformen“ werden derzeit gegen jeden Widerstand durchgesetzt. Vielleicht wird die „Winterrosenrevolution“ der Studenten langsam ausbrennen; vielleicht gelingt es nicht, den ungerechten Umbau der Hochschulbildung zu verhindern. Aber eins ist sicherlich gelungen: 24 Jahren nach dem Systemwechsel hat Ungarn als demokratisches Land seine Volljährigkeit erreicht. Die Bewegung hat gezeigt, dass in Ungarn nicht nur das Wort der Gewalt, sondern auch das der Freiheit herrscht. Die Gymnasiastin Fruzsina verbringt ihre Zeit unter den Demonstranten am Campus, statt brav zu Hause zu lernen. „Von 500 Punkten sollte ich mindestens 475 erreichen, um dieses Jahr in dem gewünschten Studiengang aufgenommen zu werden. Dazu sollte ich 12 Stunden pro Tag lernen. Aber ich bin hier, das ist wichtiger.“ Im Hörsaal lernt sie zusammen mit den anderen, wie man Demokratie macht. Ein Wissen, das man aus den Büchern nicht erlernen kann.
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