Baguette, Rotwein – und Stalin

Stalin und Chruschtschow konferieren (17 Jahre vor Stalins Tod, 20 Jahre vor der Geheimrede des XX. Parteitags)
Stalin und Chruschtschow konferieren (17 Jahre vor Stalins Tod, 20 Jahre vor der Geheimrede des XX. Parteitags)

Der Tod Stalins vor genau 60 Jahren legte in der Sowjetunion wie auch im restlichen Ostblock den Weg frei für umfassende Reformen. Vor dem Hintergrund dieses „Tauwetters“ schrieb ein französischer Schriftsteller 1957 von einer skurrilen und äußerst witzigen (fiktiven) sowjetisch-französischen Begegnung im Paris der ausgehenden IV. Republik.

von David

Frühling 1956. Die nicht ganz so geheime Rede Nikita Chruschtschows auf dem XX. Parteitag der KPdSU ist diesseits wie auch jenseits des Eisernen Vorhangs wie eine Bombe eingeschlagen. „Personenkult“ ist jetzt out. Doch was soll ihn ersetzen? Vorerst eine tiefe Krise des sozialistischen Selbstvertrauens! Was wird wohl morgen in der Pravda zu lesen sein? Von den Unmutsbekundungen in den Straßen Posens und Budapests lieber nichts!
Wenn es der Sowjetunion und ihren schwesterlich verbundenen Volksdemokratien nicht gut geht, kann es mit den Staaten im kapitalistischen Westen auch nicht so weit her sein. Deshalb wird der Metall-Ingenieur und ehemalige Oberst der Roten Armee Iwan Popow nach Paris geschickt, um undercover umfassend über die Dekadenz des Kapitalismus zu berichten.
Und dies tut Popow. Mit großer Verwunderung und immer wieder grenzenlosem Erstaunen wandelt er – manchmal einem Außerirdischen gleich – durch Paris und versucht, seine Beobachtungen mit marxistisch-leninistischer Dialektik in Einklang zu bringen. Keine leichte Aufgabe. Denn von seiner großen Fremdsprachen-Begabung abgesehen, ist er ganz und gar ein Produkt des revolutionären Russlands. Mit Nostalgie erinnert sich Iwan daran, wie ihn sein anarchistischer Vater zur Belohnung für gute Schulnoten Bomben auf Polizisten werfen ließ. Im Ersten Weltkrieg sammelte er innerhalb eines Monats eine Gefechtswunde, die Masern, das St.-Georgs-Kreuz für Tapferkeit und eine Mitgliedskarte bei den Bolschewiki. Im Bürgerkrieg kämpfte er an der Seite des künftigen Marschalls Schukow und des künftigen Ex-Genossen Trotzki. Wirklich schwierig wurde es aber in Friedenszeiten. Als Popow aus Versehen statt eines Metallurgie-Berichts ein Schreiben über eine Armee-Konspiration gegen Stalin an diesen schickte, begannen die Großen Säuberungen. Nur eine Intervention Schukows sorgte dafür, dass er diese (wenn auch mit einigen gebrochenen Knochen) überlebte – daher stammt auch Popows ambivalente Hass-Liebe zum „verehrten Chef, dem Erneuerer der Philosophie, der Sonne der Menschheit“ (d.h. zu Stalin).

Brouilly statt Pravda

Jean Burnats Roman aus dem Jahre 1957 ist ganz aus der Perspektive seines Helden Popow geschrieben und folgt seinen Ausführungen abwechselnd in jeweils sechs Berichten (die er nach Moskau schickt) und sechs Tagebuch-Einträgen. Während die ersten Rapporte und persönlichen Notizen sich in ihrem Sowjetsprech-Duktus noch ähneln, driften sie im Laufe des Romans immer stärker auseinander. Der Apparatschik Popow, der die Rechenschaftsberichte in die Sowjetunion schickt, entwickelt sich zu einem immer hoffnungsloseren Romantiker, der die Franzosen zwar nur selten versteht, sie aber trotzdem immer liebenswürdiger findet, nebenbei seine wilde Ehe mit der Französin Madeleine genießt, ausgedehnte Spaziergänge durch Paris macht und sich überzeugt, dass ein Brouilly zu Coq au vin besser passt als Fleury – und das alles ohne Lektüre der Pravda.
In den oftmals sehr skurrilen Interaktionen mit den Franzosen, deren Dekadenz er zum Wohle des sowjetischen Vaterlands analysieren soll, malt Popow unwillkürlich ein Portrait des europäischen „Tauwetter“-Zeitgeistes und der Sowjetunion, das einige Erkenntnisse von Alexander Solschenizyns Archipel GULag und auch wissenschaftlicher Veröffentlichungen aus der Zeit der Archivöffnungen vorwegnimmt. Die extreme Gewalt des revolutionären Russlands, die Feind-Paranoia, die Dysfunktionalität von Landwirtschaft und Industrie sind zwischen den lakonischen Aufzeichnungen des Oberst gut zu erkennen. Wie er seine erste Nacht als „überführter Menschewik“ in einer Einzelzelle mit 32 anderen „überführten Menschewiki“ verbrachte. Wie er automatisch ausländische Spionage vermutet, wenn er zwei (vermeintlich) französische Zivilpolizisten, die ihn verfolgen, trotz Einhaltung des sowjetischen Spionage-Handbuchs nicht loswird. Wie er die Geschichte einer Kolchose schildert, deren Grundstein vor 20 Jahren gelegt wurde und auch heute lediglich aus einem Grundstein besteht…

103.000 Irre in Frankreich

Popow verfolgt aber natürlich auch seine Mission und blickt analytisch in das Herz der kapitalistischen Dunkelheit – und in ihr alles andere als stabiles politisches System: „Es gibt 103.000 Irre in Frankreich und 620 Abgeordnete. Die Irren halten sich fast alle für Napoleon. Die Abgeordneten ebenfalls. Die Direktoren von Irrenhäusern denken, sie seien Gott. Die Regierungs-Präsidenten auch, jedoch für weniger lange, da sie gestürzt werden, sobald man des Schnitts ihres Schnurrbarts oder der Form ihrer Brille überdrüssig ist. Die Direktoren von Irrenhäusern werden nicht gestürzt, da es einfacher ist, einen anderen Regierungs-Präsidenten zu finden als einen guten Irrenhaus-Direktor.“
Sehr unangenehm fällt Popow jedoch auf, wie vorurteilsvoll viele Franzosen ihm begegnen. Sie erwarteten einen asiatischen Barbaren mit „einer Fackel in der Hand und einem Hinrichtungskommando im Schlepptau“ und sind dann erstaunt, wie ein Russe so kultiviert, höflich und geistreich sein kann: „Was die Franzosen, denen ich begegne, am meisten wundert, ist, dass ich ein ganz normaler Mensch bin.“ Trotzdem freut sich Popow, wenn unbekannte Franzosen ihn als prominenten Sowjetbürger auf der Straße erkennen und ihn als „Popoff“ (frz. Schimpfwort für Russe) bezeichnen.
Doch der gestandene Oberst, Altbolschewik und Fast-Ex-Stalinist trifft keineswegs nur auf Feindseligkeit. Fräulein Rosette Dubourg etwa, eine umtriebige Aktivistin der Kommunistischen Partei Frankreichs (KPF), hat den unbändigen Drang, Popow mit auf ihr Zimmer zu nehmen, enttäuscht ihn aber letztlich – nicht nur aufgrund ihres Äußeren. Alle französischen Genossen erweisen sich als trost- und humorlose Gestalten, die statistikbegeisterter sind als die Pravda, und dabei trotzdem nichts von marxistischer Dialektik verstehen. Popows Berichte sollen letztlich auch evaluieren, inwiefern der alleinseligmachende Marxismus-Leninismus eine Chance in Frankreich hat: die KPF kommt als ernstzunehmende Unterstützung für ihn nicht in Frage. Zumal der Unterstützer-Dunstkreis das Los des französischen Proletariats am liebsten in Abendgesellschaften bei Champagner diskutiert – einer kapitalistischen Versuchung, der Popow nur zu gerne nachgibt, um später in ausgedehnten Selbstkritik-Sitzungen zu büßen.

Klassenkampf a lá Citroën

Viel eher sieht Popow eine Chance für die Revolution in der grenzenlosen Begeisterung der Franzosen für Autos: „Das französische Leben ist immer mehr vom Kampf der Polizei gegen die Autofahrer konditioniert, ohne dass der Sieg von einem oder dem anderen Lager davon getragen wird.“ Potential für einen Klassenkampf bieten daher die Gegensätze Nichtbesitzer gegen Besitzer, Altmodelle gegen Neumodelle, Volksmodelle gegen Luxusmodelle. Auch die vieldiskutierte gesetzliche Schließung der Bordelle im Jahre 1946 sieht der Russe als großes Potential für Klassenkämpfe, hat sie doch die Preise in spekulative und proletarier-feindliche Höhe getrieben – genauso wie das Spesenkonto des gewissenhaften Empirikers Popow.
Die tiefe Selbstverliebtheit der Franzosen wundert ihn stets: Diese große Kränkung darüber, dass der Rest der Welt offenbar nicht nur aus Franzosen besteht und sogar aus Menschen, die keine (mehr) sein wollen – vor allem, wenn ihnen Brüderlichkeit nur als kleine Brüder zugestanden und Freiheit und Gleichheit gar ganz verweigert wird. Aber auch das reflexhafte Überdecken dieser Kränkung mittels Wortwitzen, die nur sie für witzig halten (wie etwa die Umbenennung des Kriegs in Algerien in „Pazifikations-Operation“).
Doch Popows Unverständnis hält ihn nicht davon ab, Frankreich und dessen Bewohner bzw. vor allem dessen Bewohnerinnen lieb zu gewinnen. Und so zerfallen seine letzten privaten Aufzeichnungen in immer kleinere Gedankensplitter und Notizen – über seine Geliebte Madeleine, über die Freude des Fischens an der Seine (mit Wurst, Baguette und einem Liter Rotwein ausgerüstet), über den verführerischen Genuss französischer Entengerichte, über das angenehm milde Klima, und darüber, dass er glücklich ist, in Paris und nicht in Budapest zu sein.
Seinem Antrag, zum permanenten „Beobachter-Delegierter für Studien und Statistik der Entwicklung des Zusammenbruchs des französischen Kapitalismus“ ernannt zu werden, wird stattgegeben. Vom Altstalinisten zu einer Art Proto-Eurokommunisten gewandelt, darf Oberst Popow weiter am Ort seines mittlerweile geliebten Studienobjekts bleiben – in einem Regime, das schon zwei Jahre später aufgrund der Intervention eines höher Gradierten nicht mehr existieren sollte.

Jean Burnat:
Carnets secrets et parisiens du Colonel Popoff [Die geheimen und Pariser Hefte des Oberst Popoff]
Paris 1957
203 Seiten
(antiquarisch erhältlich)

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