Als Prestigeprojekt deutscher Orientpolitik spielte die Bagdadbahn als Transportmittel bei der Vernichtung ganzer Bevölkerungsgruppen eine wichtige Rolle. Über Schienen, Humanität und ein Land, das wegsieht.
von julibee & Lara
Als Harry Bishop an einem trockenen Sommermorgen 1915 in den Bergen eintraf, waren sie gerade im Aufbruch. Es waren hunderte; Männer, Frauen und Kinder. Selbst für den nach dem langen Marsch geschwächten britischen Kriegsgefangenen sahen sie elend aus. Ihre Reise sollte nicht mehr lange dauern: Eine Wache erklärte, das seien Armenier. Sie sollten als Arbeiter an der Bahntrasse durch Bishop und die anderen Kriegsgefangenen ersetzt und zu den Hügeln gebracht werden, an einen Ort ohne Wasser. Dort wolle man abwarten, bis sie sterben. Berlin, 18 Jahre zuvor. „Ich pfeife auf diese Konzession und auf die ganze Bagdadbahn!“ Die Bedenken Georg von Siemens’, des damaligen geschäftsführenden Direktors der Deutschen Bank, waren sowohl wirtschaftlicher als auch politischer Natur. Einerseits erholte sich das Osmanische Reich gerade erst von einem Staatsbankrott; andererseits stritten sich Frankreich und England um die Vorherrschaft am Bosporus. Selbst nachdem die osmanische Regierung sowie Bismarck versucht hatten, seine Sorgen zu zerstreuen, fürchtete Siemens um die Profitabilität des Bauprojektes. Er blieb daher nicht nur dessen Wegbereiter, sondern auch bis zu seinem Tod 1901 sein größter Kritiker. Dabei hatte die Bagdadbahn das größte Prestigeprojekt der deutschen Orientpolitik werden sollen. Die Beteiligung des Kaiserreiches war maßgebend: Die Deutsche Bank finanzierte und die Umsetzung vor Ort stand unter der Leitung der Firma Phillip Holzmann. Weitere deutsche Unternehmen waren mit Schienenlieferungen und dem Bau der Lokomotiven beauftragt worden. Für das Deutsche Reich war die Direktverbindung der Versuch einer Machtsicherung. Zugleich war das Osmanische Reich ein wichtiger Bündnispartner im Weltkrieg: „Unser einziges Ziel ist, die Türkei bis zum Ende des Krieges an unserer Seite zu halten“, so Reichskanzler Bethmann Hollweg 1915, „gleichgültig, ob darüber Armenier zu Grunde gehen oder nicht“. Neben der Politik der Verharmlosung, die so weit ging, dass der Genozid gegenüber der deutschen Öffentlichkeit abgestritten wurde, gab es viele deutsche Offiziere in der osmanischen Armee, die teilweise oder vollständig in die Durchführung des Völkermordes involviert waren. Das genaue Ausmaß der aktiven Beteiligung des Deutschen Reichs ist dabei bis heute unklar und umstritten. „Jedenfalls waren die Deutschen Zuschauer“, fasst Madlen Vartian, stellvertretende Vorsitzende des Zentralrats der Armenier in Deutschland (ZAD), zusammen, „sie haben es zugelassen und sie haben nichts dagegen getan.“ Auch, um wichtige Investitionen nicht zu gefährden: „In der Bagdadbahn hat das deutsche Schweigen eine Begründung gefunden“, so Vartian.
Fahrkarte in den Tod
täterschaft oftmals bedrohlich unscharf wurden. Für viele Armenier wurde die Zugfahrt auf dem bereits fertig gestellten Streckenabschnitt von Haidar Pascha nach Aleppo zu einer Reise ins Nichts, deren Preis noch mehr als ihr Leben war. Wer nicht genug Geld hatte, um die horrenden Kosten einer Fahrkarte zu tragen, lief nebenher, und wer zahlen konnte, teilte sich mit 87 weiteren Deportierten einen offenen Viehwagen – ursprünglich für sechs Pferde konstruiert. Tausende starben in den Lagern an den Bahnhaltestellen und die Schienen wurden von den Leichen derer gesäumt, die die Fahrt nicht überstanden. In Augenzeugenberichten ist die Rede von Säuglingen, die auf den Wagen geboren und von Offizieren herausgeworfen wurden. Ein türkischer Bahnarbeiter brüstete sich mit der Vergewaltigung armenischer Kinder. Der deutsche Schriftsteller Armin T. Wegner, zum Zeitpunkt der Vertreibung der Armenier als Sanitätsoffizier in Ostanatolien tätig und einer der wichtigsten Augenzeugen, beschrieb, wie grausam die Reisenden litten: „Manche dieser Wagen wurden von außen verschlossen und ohne Rücksicht auf ihren Inhalt tagelang hin und her rangiert, dass, wenn man sie endlich öffnete, ein Teil von ihnen erstickt oder verhungert war.“ Die Beamten der Bahngesellschaft wurden dabei zu Zeugen der Verbrechen. Bereits im Frühjahr 1915 schrieb der stellvertretende Generaldirektor der Anatolischen Eisenbahngesellschaft Franz Günther: „Wie es einmal vor der Geschichte zu rechtfertigen sein wird, dass dies alles unter unseren Augen geschieht, ohne dass wir uns rühren, weiß ich nicht.“ Seit Beginn des Genozids hatte sich Günther vehement gegen die Deportation seiner armenischen Angestellten gewehrt und damit erreicht, dass fast alle an ihrem Arbeitsplatz bleiben durften – ihre Familien wurden deportiert. Günthers Argument, dass sonst die Bauarbeiten und der Truppentransport völlig zum Erliegen kämen, war berechtigt. Bereits 1914 arbeiteten 880 armenische Fach- und unzählige einfache Arbeiter an der Bahn und stellten somit einen nicht unerheblichen Teil der Belegschaft. Gerade in den Gebirgen Taurus und Amanus, in denen die größten Baulücken lagen und der Tunnelbau viel mehr Personal erforderte, war die Anzahl armenischer Arbeiter gewaltig und stieg mit jeder Woche – in vielen Fällen entgegen den Vorgaben der osmanischen Regierung. „Türkische Stellen wurden misstrauisch und richteten Untersuchungskommissionen ein“, so Rolf Hosfeld, Kulturhistoriker und Leiter des Lepsiushauses in Potsdam, einer Forschungs- und Begegnungsstätte zur Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts. „Den Deutschen wurde unterstellt, dass sie bewusst Armenier als Arbeiter beansprucht hätten, um sie vor Deportationen zu schützen – was keine falsche Unterstellung war.“ Teilweise wurden auch Intellektuelle oder Mönche ohne jede technische Qualifikation als Ingenieure beschäftigt. Zu den regulären Angestellten kamen Arbeitsbataillone, die von der Regierung zum Bau abgestellt wurden. Sie bestanden größtenteils aus armenischen Zwangsarbeitern: Männern, die zum Militärdienst eingezogen worden waren, aber nun keine Waffen mehr tragen durften. Insgesamt waren im Amanus-Gebirge um den Jahreswechsel 1915/16 über 7.000 statt der vorgesehenen 3.130 Armenier beschäftigt – zu viele, als dass es hätte unbemerkt bleiben können. Der deutsche Offizier, der den Deportationsbefehl am 17. Oktober 1915 schließlich unterschrieb, Oberstleutnant Sylvester Böttrich, war Zuständiger für das Eisenbahnwesen im obersten türkischen Generalstab. Laut Wolfgang Gust, Experte für den armenischen Genozid, war er der einzige Deutsche, dem zweifelsfrei nachgewiesen werden kann, Deportationen angeordnet zu haben. Für Böttrich war es eine Frage des persönlichen Ehrgeizes: Nach Erlass des Schreibens setzte er sich mit allen Kräften für die Umsetzung seines Befehls ein und verhinderte so einen weiteren Aufschub der Deportationen, den Günther zu Gunsten der Bauarbeiten zu erreichen versucht hatte.
Strittige Rolle
Viele deutsche Ingenieure im Amanus hatten sich mit ihren armenischen Mitarbeitern angefreundet. Im Juni 1916 mussten sie nun hilflos zusehen, wie ihre Kollegen abtransportiert wurden; ein paar wurden versteckt, es blieb aber bei Einzelfällen. Am 25. Juni kamen 1.600 Kriegsgefangene, unter denen sich auch der Brite Harry Bishop befand; durch sie konnten die Bauarbeiten fortgesetzt werden und schon kurze Zeit später erinnerte dort kaum mehr etwas an die Armenier. Heute, fast 100 Jahre später, nachdem fast alle Überlebenden gestorben und die Dokumente in Archiven vergraben sind, bleibt die Frage nach der Rolle der Bagdadbahn beim Völkermord umstritten. „Die größten Beschützer der verfolgten Armenier waren die Beamten der Bagdadbahn“, argumentiert Wolfgang Gust. „Es gibt viele Dokumente, aus denen hervorgeht, dass die Bagdadbahn ein großes Interesse daran hatte, ‚ihre’ Armenier zu behalten. Das ist ihnen jedoch nicht geglückt.“ Über den Umgang mit den Zwangsarbeitern erklärt er: „Die Armenier haben sich darum gedrängelt, bei der Bagdadbahn zu arbeiten. Sie bekamen kein Gehalt, aber sie bekamen etwas zu essen – und sie wurden nicht umgebracht.“ Ein gegensätzliches Bild zeichnet hingegen Madlen Vartian: „Die Baustellen der Bagdadbahn waren Vernichtungslager“, so die stellvertretende ZAD-Vorsitzende. „Kaum etwas zu essen, kaum etwas zu trinken – die armenischen Arbeiter sollten ausgemergelt werden.“
Diese Widersprüchlichkeit der Deutung von Schuld und Hilfe wird verstärkt dadurch, dass die Träger der Bagdadbahn und ihre Rechtsnachfolger sich nicht weiter mit diesem Abschnitt ihrer Geschichte beschäftigen. Nicht die Philipp Holzmann AG, die 2002 Konkurs anmeldete. Und nicht die Deutsche Bank, in deren unternehmensgeschichtlichen Werken der Völkermord nur am Rande erwähnt wird und gegen die es Vorwürfe gibt, der türkischen Regierung bei der Einbehaltung des von deportierten Armeniern beschlagnahmten Geldes geholfen zu haben. Eine entsprechende Klage wurde 2010 in den USA abgewiesen.
Auch politisch scheint an einer Aufarbeitung wenig Interesse zu bestehen; nicht nur in der Türkei. Die Gelegenheit, nach der Insolvenz der Philipp Holzmann AG deren Archivunterlagen zu erwerben und der Wissenschaft für weitere Untersuchungen zur Verfügung zu stellen, ließ die Bundesregierung ungenutzt. 2010 hieß es in einer Stellungnahme, die Aufarbeitung der „tragischen Ereignisse“, die auch hier bis heute niemand offiziell Völkermord genannt hat, sei „in erster Linie Sache der beiden betroffenen Länder Türkei und Armenien.“ Die Geschichte der Bagdadbahn ist voller Widersprüche und Lücken, aber eins zeigt sie deutlich: Deutschland ist selbst betroffen.
AGHET 1915–2015: Die Kurden und der Völkermord | memorique: Genozid und Geschichtsunterricht | Das Deutsche Reich und die Bagdadbahn | klassiquer: Die vierzig Tage des Musa Dagh | Kulturelle Verarbeitung des Völkermords
Redaktioneller Nachtrag (10. Oktober 2015):
Nachdem die im Artikel als Vertreterin des Zentralrats der Armenier in Deutschland (ZAD) zur Wort kommende Frau Madlen Vartian Ende September 2015 auf ihrer privaten Facebook-Seite sunnitische Muslime als „Pack“ verunglimpft hatte, erbaten wir beim ZAD-Vorstand eine Stellungnahme. Uns wurde mitgeteilt, der Verband distanziere sich von dem Posting und man stelle klar, „dass Frau Vartian in dieser Sache nicht für den ZAD und auch nicht für die armenische Gemeinschaft in Deutschland spricht“. Man habe Frau Vartian nahe gelegt, ihr Vorstandsamt niederzulegen. Eine Entscheidung darüber steht noch aus.
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