Rom mit antiken Augen gesehen

Lucius Gaius führte ein beschauliches Leben – bis eines Morgens in seiner Lieblingsstadt nichts mehr so ist wie zuvor. Ein ungewöhnlicher Städtebericht.

von Babs

Ostia, eine kleine, florierende Hafenstadt nahe dem antiken Rom. Wir schreiben das dritte Jahrhundert nach Christus. Lucius Gaius hat soeben sein Haus verlassen, das unweit des Hafens liegt, um in Rom einige Angelegenheiten zu erledigen. Unter anderem möchte er sich ein Spektakel im Kolosseum ansehen. Doch zunächst geht er in die nahegelegene Terme di Foro. Auch wenn er fast jeden Tag hier ist, beeindruckt ihn das Mosaik des Neptun doch jedes Mal aufs Neue. Sinnend steht er einige Momente davor, bevor er baden geht.
Der Weg nach Rom ist nicht weit. Doch als Lucius in der Stadt ankommt, bleibt ihm fast das Herz stehen: Unmengen von Menschen haben sich vor dem Kolosseum versammelt. Sie ähneln ihm alle so gar nicht, und ständig heben sie geheimnisvolle Apparate in die Luft, aus denen Blitze schießen. Ist es das Ende der Welt? Der Zorn des Jupiter, der ihn überkommt? Doch Lucius beruhigt sich schnell: Vermutlich handelt es sich nur um neue Sklaven aus sehr fremden Ländern. Also hinauf ins Kolosseum. Lucius erinnert sich noch gut an die Zeit, als 50.000 Einwohnern Roms die Freuden der Brot und Spiele verwehrt geblieben waren, weil ein Blitzschlag das Gebäude getroffen hatte. Doch nun ist es, Jupiter sei Dank, wieder nutzbar und so freut sich Lucius auf einen guten Gladiatorenkampf.
Im Kolosseum angekommen, stellt er jedoch entsetzt fest, dass sich die Geschichte vor seinen Augen wiederholt: Die Gesandten des Jupiter stoben laut lachend durch die Gänge und verschleudern in ihrem Übermut Blitze in alle Ecken des Amphitheaters. Bereits die Hälfte des Baus ist getroffen, eingestürzt bis auf die Ruinen. Entsetzt flieht Lucius zum circus maximus. Heute ist kein Feiertag, denkt er bei sich, heute werde ich dort unbehelligt sitzen können und die prachtvollen Mosaiken bewundern. Weit gefehlt. Als er ankommt, traut Lucius seinen Augen kaum. Was kann über Nacht nur mit dem prächtigen Feld passiert sein? Hier kann kein Wagenrennen mehr stattfinden, hier gibt es nur noch Rasen. Der Zorn der Götter muss riesig sein, fürchtet er und überlegt schon, heute Abend eine große Feier zu Ehren von Jupiter und Minerva zu geben. Sonst würde am Ende ganz Rom unter wucherndem Wald begraben sein.

Da wird sich Konstantinopel ärgern
Nein, das Durchatmen ist dem armen Lucius nicht möglich. Als er die Straßen hinauf in die Stadt geht, bemerkt Lucius erst nach einer halben Stunde erstaunt, dass er diesen Teil Roms nicht einmal mehr einordnen kann. Er hat ihn noch als brachliegendes Land in Erinnerung, stattdessen erhebt sich vor ihm nun ein Bau, der in seiner Pracht sogar das mächtige Pantheon übertrifft. Aber was steht neben der – zweifelsohne beeindruckenden – Kuppel für ein komischer Kerl, den Arm mahnend in die Höhe gestreckt? Ist das etwa diese Mystikfigur jener jüdischen Sekte? Sie kommt ihm seltsam bekannt vor. Aber, was solle die auf diesem prachtvollen Bau? Lucius packt die Neugier. Er schaut sich lange auf dem Vorplatz um und bemerkt dann zu seinem Erstaunen eine weitere Neuheit: Der Obelisk, der schon seit Jahren nach Rom gebracht werden sollte, dann aber in Alexandria blieb, ist angekommen. Endlich ein Zeichen. Konstantinopel wird sich ärgern.  Die Inschrift jedoch gibt ihm wiederum ein Rätsel auf – des großen Iulius Caesars Asche, hier, oben im Obelisken? Die Welt hat sich verändert.
Dennoch, ihm lässt das große Haus, dieser Tempel, der so stolz über dem Platz thront, keine Ruhe. Als er ihn betritt, erschrickt er: Es sind Massen an Menschen, die ehrfürchtig auf und ab gehen, also passt Lucius sich an. Im vorderen Teil des Gebäudes angekommen, blickt er auf und muss lachen – es ist nur ein Ableger des Pantheon. Das kreisrunde Loch in der Decke ist auch hier zu finden. Vorbei der Spuk, für ihn wird klar: Auch dieses Gebäude dient der Anbetung. Lucius überlegt angestrengt, ob er auch etwas opfern könnte. Zuhause, in Ostia, hat er noch jede Menge Getreide, sogar ein halbes Schwein ist noch da. Und wenn die Römer schon solch einen schönen Tempel bauen, sollte auch er seinen Respekt zollen. Allerdings kann Lucius beim besten Willen keinen Opferaltar entdecken. Er schaut sich noch eine Weile um, doch die Menschenmassen überfordern ihn. Müde verlässt er die Basilika und setzt sich auf den Vorplatz.

Einige Dinge ändern sich nie…
Allmählich wird ihm bewusst, dass sich dieser „Christus“, wie sie ihn damals abfällig genannt hatten, tief in die Herzen der Römer gebrannt hat. Überall werden ihm Tempel gewidmet, es ist wirklich nicht erstaunlich, dass Jupiter mit all seinen Gesandten versucht, sich zu behaupten. Noch mehr jedoch scheinen sich die neuen Römer für eine Frau zu begeistern, die die Mutter dieses Christus gewesen sein soll. Lucius seufzt laut. Diese ewige Melodramatik-Sehnsucht der Stadtleute ist kaum zu ertragen!
Ein runder, nasser Fleck auf dem Boden des Pantheon ist auch heute das erste, was ich sehe, als ich das Gebäude betrete. Auch 1.700 Jahre nach Lucius Gaius´ Zeit gibt es noch keine Decke, die die Kuppel eines der am besten erhaltenen Bauwerke der Antike abdeckt. So regnet es noch immer hinein in das Gebäude, das wohl Rom am besten repräsentiert. Gebaut im ersten Jahrhundert nach Christus, diente es zunächst vermutlich der Verehrung römischer Götter, bevor es an die Kirche weitergegeben wurde. Heute finden sich die Grabmäler von Raffael zwischen dem des ersten Königs Italiens, Vittorio Emmanuele, und einem Altar zur Anbetung der Madonna. Bei meinem Weg durch Rom wird mir mit den Augen Lucius Gaius´ bewusst: Auch wenn sich die „Sekte“ inzwischen etabliert hat, wird das Zusammenleben zwischen christlicher Religion und antikem Schaffen wohl nirgendwo so zelebriert wie in der Ewigen Stadt. Und nirgendwo lebt man so sehr von der Vergangenheit und so wenig von der Zukunft.

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