In „Räume des Schreckens“ zeigt der Berliner Osteuropahistoriker Felix Schnell, dass der Stalinismus besonders in der Ukraine auf knapp einem Vierteljahrhundert extremer Gewalt seitens zahlreicher nichtstaatlicher Akteure seine Grundlagen fand.
von David
Letztes Jahr sorgte Bloodlands. Europa zwischen Hitler und Stalin für lebhafte Diskussionen in wissenschaftlichen und publizistischen Kreisen. Wenngleich Timothy Snyders Band es schaffte, den westeuropa- bzw. sibirien-zentrischen Blick auf die Schrecken des Zweiten Weltkriegs und des Stalinismus in osteuropäische Grenzgebiete zu lenken, so waren die Ausführungen zu den Ursachen und der Vorgeschichte des Terrors in den „blutigen Ländern“ befremdlich knapp gehalten.
Die Habilitationsschrift des Berliner Osteuropa-Historikers Felix Schnell (Räume des Schreckens. Gewalt und Gruppenmilitanz in der Ukraine 1905-1933) kann daher im Zuge der Kontroversen um Snyders Buch als eine analytische Vorgeschichte von Bloodlands, als eine Art „Prequel“, gelesen werden.
Schnell weist klar darauf hin, dass in der Ukraine die entgrenzte Gewalt nicht erst mit der Hungersnot von 1933 begann, sondern ein Vierteljahrhundert früher. Dies lag an der massiven Unterverwaltung und den schweren politischen Defiziten des Russischen Reiches. Der russische Staat war zu schwach, um seinen Anspruch auf Gewalt- und Herrschaftsmonopol flächendeckend erfüllen zu können; er tat dies vor allem durch immer wiederkehrende Gewaltausbrüche. Daher lebte ein großer Teil der hauptsächlich bäuerlichen Bevölkerung in einem Zustand der „Staatsferne“, in dem Konflikte – mangels legaler Aushandlungsmöglichkeiten (etwa Wahlen) – hauptsächlich mit physischer Gewalt gelöst wurden. Die zunehmend rücksichtslose Gewalt der russischen revolutionären Bewegung trug ebenso nicht zur Deeskalation bei. Im Zuge der Revolution von 1905 eröffneten „militante Gruppen“, so Schnell, „Gewalträume“, in denen sie ihre zerstörerischen Kräfte entfalteten.
Gewalt als ununterbrochener Kreislauf
Als „Gewaltraum“ versteht Schnell eine Situation, in der die Anwendung physischer Gewalt zur zentralen Handlungsoption wird: Er ist somit im Sinne von Thomas Hobbes als ein Zustand des Kriegs aller gegen alle zu verstehen, in dem keine Gruppierung die Oberhand gewinnt. Die Gewalt wird dabei nicht hauptsächlich vom Staat ausgeübt (der in einem „Gewaltraum“ zu einem Akteur unter vielen anderen degradiert ist), sondern von „militanten Gruppen“: Gemeinschaften meist junger, gewaltbereiter Männer, die nach dem Führer-Gefolgschaft-Prinzip aufgebaut sind. Die Gewalt solcher „militanten Gruppen“ entkoppelt sich sehr rasch von etwaigen ideologischen Ursprüngen und reproduziert sich durch die Konditionierung in eine regelrechte „Gewaltkultur“, so der Berliner Historiker. Der endlose Kreis des „Gewaltraumes“ wird erst gebrochen, wenn eine Gruppierung die Oberhand gewinnt und ein (Gewalt-)Monopol durchsetzt.
Die Revolution von 1905 bis 1907 bezeichnet Schnell als „Laboratorium der Gewalt“. Die geschwächte Staatsmacht griff zu drastischen Maßnahmen, um ihre eigenen Interessen durchzusetzen und schickte Strafexpeditionen in aufständische Dörfer. Da es ihr nicht um den Schutz der zivilen und schon gar nicht der jüdischen Bevölkerung ging, fanden in fast allen Städten der Ukraine antisemitische Pogrome statt. Diese hörten erst auf, wenn die Staatsmacht den Mob als Gefährdung für sich wahrnahm und eingriff, oder wenn eine revolutionäre Miliz mit Gegengewalt dagegen vorging. Bürgerwehren, Selbstverteidigungs-Einheiten und revolutionäre Milizen ergriffen dabei oft die Chance des Machtvakuums und entwickelten sich zu „militanten Gruppen“, die sich jeglicher politischen Kontrolle entzogen. Doch 1907 hatte der russische Staat den Bann des „Gewaltraumes“ durchbrochen und sein Gewaltmonopol wieder durchgesetzt – wenngleich nur sehr brüchig.
Der Erste Weltkrieg entgrenzte und totalisierte die Gewalt. Die russische Armee deportierte und vertrieb zu Anfang des Krieges zehntausende jüdische Zivilisten aus frontnahen Gebieten, während marodierende Soldaten Dörfer im Hinterland terrorisierten. Mit der Armee zerfiel auch die Staatsmacht. So eröffnete sich wieder ein „Gewaltraum“, in dem „militante Gruppen“ agieren konnten. Besonders in der Ukraine, wo die Konfliktlinien vielfältiger waren, kam es während des Bürgerkriegs 1917 bis 1922 zu massiven Gewaltexzessen. Dies lag auch daran, dass sich hier soziale Konflikte mit ethnischen Konflikten überlagerten und „militante Gruppen“ im Hinterland größerer Kriegshandlungen (etwa des polnisch-sowjetischen Kriegs) volle Handlungsfreiheit hatten. Auf dem Land bildeten sich zahlreiche paramilitärische Verbände von Deserteuren, marodierenden und zwangsrekrutierten Bauern unter dem Kommando charismatischer Führungspersonen: sogenannte Atamanen-Armeen. Diese terrorisierten ganze Landstriche. Die Gewalt, so Felix Schnell, entkoppelte sich rasch von den meist agrarrevolutionären ideologischen Ursprüngen. Der Terror gegen Juden, Deutsche, Intellektuelle, Stadtbewohner, Gutsbesitzer und Reiche verstärkte die Gemeinschaft der „militanten Gruppe“, musste jedoch immer wieder reproduziert werden – ein endloser Kreislauf der Gewalt. Typisch waren die Atamanen-Armeen in der Ukraine deshalb auch, weil auch „reguläre“ Streitkräfte (Rote Armee, Weiße Armee und die Armee der ukrainischen Nationalisten) wie sie organisiert waren und agierten: als permanent gewaltbereite paramilitärische Kleinverbände, deren Loyalität eher einem örtlichen charismatischen Kommandeur als einer Regierung galt.
1921/22 hatten die Bolschewiki den Sieg über ihre militärischen Gegner errungen und die Atamanen-Armeen zerschlagen. Sie hatten jedoch ihre Staatsmacht nicht in den Dörfern durchsetzen können. In diesem Sinne war der Russische Bürgerkrieg, besonders in der Ukraine, nicht beendet, sondern lediglich durch einen Waffenstillstand aufgeschoben. 1928/29 brach der Bürgerkrieg mit den Zwangskollektivierungs-Kampagnen wieder aus.
Kollektivierung als Krieg aller gegen alle
Der Autor sieht diese nicht so sehr als Angriff der Bolschewiki auf das Dorf, sondern als eine Vielzahl chaotischer Kleinkriege, in denen die tatsächlichen Loyalitätslinien alles andere als klar waren. Die Frustration von Bürgerkriegsveteranen, der Fanatismus militanter Spätgeborener, der Hass der Bolschewiki auf die Bauern, die Erinnerung der Bauern an die Macht „ihrer“ Atamanen-Armeen und die schwelenden innerdörflichen Konflikte brachen in unkontrollierte, chaotische Gewalt aus. Mangels staatlicher Infrastrukturen auf den Dörfern entstanden so erneut „Gewalträume“, über die die politische Elite in Moskau wenig Kontrolle hatte. Brigaden, die das Getreide der Bauern für die Kolchosen konfiszieren sollten, verhielten sich wie „militante Gruppen“: Sowohl aus der Stadt entsendete wie auch lokale Aktivisten errichteten – im Namen der Sowjetmacht – kleine Terrorherrschaften, mit Hilfe derer sie sich hauptsächlich selbst bereicherten und ihren Rachegelüsten, persönlichen Fehden und ihrem Neid auf reichere Bauern freien Lauf ließen. Diese Gruppen mussten ihre Gewalt ständig reproduzieren, da sie selbst mit der gewaltsamen Rache ihrer Opfer rechnen mussten. Stalin konnte von Moskau aus diese Gewalt-Eskalationen keineswegs vollständig kontrollieren, nahm sie aber, so Schnell, billigend und sogar mit Kalkül in Kauf, denn sie hatten das Potential, jegliche Überreste bäuerlicher Solidarität zu zerschlagen. Auf deren Trümmern konnte somit schließlich die Sowjetherrschaft im Dorf durchgesetzt werden.
Schnells Ausführungen sind als wertvoller Beitrag über die Ursachen und mentalen Grundlagen des stalinistischen Terrors zu lesen, denn er zeigt auf, wie extreme Gewalt die Peripherie des Russischen Reiches und der Sowjetunion bereits im ersten Drittel des 20. Jahrhundert maßgeblich prägte. Die qualitativen Unterschiede sind jedoch deutlich: Terror wurde bis Anfang der 1930er Jahre von zahlreichen Gruppierungen auf einer sehr „lokalen“ Ebene ausgeübt. Der endlose Kreis der Gewalt wurde erst durchbrochen, als der Sowjetstaat seine Herrschaft (spät) monopolisierte. Staaten nutzen ihr Gewaltmonopol üblicherweise zur Prävention von Gewalt – dies ist sogar einer der wichtigsten Legitimationsmotive für Staatlichkeit. Der Sowjetstaat hingegen nutzte sein Monopol, um noch größere Gewaltexzesse zu inszenieren.
In seinem Buch macht Schnell gut verständlich, wie extrem wichtig die Gewalt-Exzesse des Bürgerkriegs als mentale Grundlegung des Stalinismus waren. Seine Analyse der komplexen Konfliktlinien innerhalb der ukrainischen Dörfer selbst und innerhalb des „Staatsapparats“ ist überaus erhellend, da sie eine Absage an die einfachen Erklärungen der Totalitaristen einerseits, aber auch an ukrainisch-nationalistische Geschichtsmythen andererseits darstellt. Warum der Stalinismus eben gerade in der Ukraine einen Teil seiner Wurzeln hatte, argumentiert Schnell um einiges schlüssiger als Timothy Snyder.
In anderen Bereichen leidet „Räume des Schreckens“ jedoch unter Schwächen. Die These, dass „staatsferne Räume“ (also das hoffnungslos unterverwaltete Russische Reich) einen Nährboden für „Gewalträume“ bildeten, wird als gegeben angenommen. Ein Vergleich mit den verhältnismäßig weniger „staatsfernen“ polnisch-ukrainischen Gebieten der ausgehenden Habsburgermonarchie wäre hier sinnvoll gewesen. Die Frage nach den Ursachen von „Gewalträumen“ wird damit zu monokausal beantwortet. Wenn Schnell „Staatsferne“ im Russischen Reich einfach postuliert, so ignoriert er gekonnt (und selektiv) neuere Befunde der Sozial- und Kulturgeschichte, etwa zur Beteiligung von Bauern an lokalen Selbstverwaltungsorganen. Warum gerade die „staatsferne“ Ukraine eher zu einem „Gewaltraum“ wurde (also extremere Gewaltexzesse durchlebte) als andere „staatsferne“ Gebiete des Reiches, ist eine Frage, die der Berliner Historiker nicht richtig beantworten kann bzw. erst gar nicht explizit stellt. Auch bleibt die starke Heterogenität der Verwaltungsstrukturen innerhalb der Ukraine selbst ebenso unerwähnt wie die massiven Auseinandersetzungen zwischen Ukrainern und Polen in ihren westlichen Gebieten.
Dass Schnell die Reproduzierung von Gewalt mit der Eigenlogik von „Gewaltraum“ und „Gewaltkultur“ erklärt und dabei ideologischen Ursachen eine Absage erteilt, ist prinzipiell nicht falsch. Die Fragen nach gruppenspezifischen Mentalitäten, Lebenserfahrungen, Orientierungen und Traditionen (um „Ideologie“ etwas zu differenzieren) hätte er zumindest stellen können – ohne sie unbedingt beantworten zu müssen. Denn wenn „Ideologie“ nur als postwendende Legitimation von Gewalt dient, dann wird sie in einem permanenten Terrorkreislauf automatisch zur Legitimation für weitere Gewalt – und sei es auch nur zur Mobilisierung weiterer Mit-Gewalttäter.
Räume des Schreckens ist inhomogen, manchmal wenig schlüssig oder zu essentialistisch argumentiert. Lesenswert ist das Buch jedoch allemal: nicht nur als spannende, beispiel- und quellennahe Analyse der Dynamik paramilitärischer Gewalt, sondern auch als anregende Studie über die Grundlagen der Sowjetunion und des Stalinismus.
Felix Schnell:
Räume des Schreckens. Gewalt und Gruppenmilitanz in der Ukraine 1905-1933
Hamburger Edition 2012
575 Seiten
28,00 Euro
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