Wer ist eigentlich dieser „Multikulti“?

Die Debatten über Herausforderungen und Hintergründe multikulturellen Zusammenlebens werden nicht nur in Talskhows, sondern immer wieder auch auf dem Buchmarkt ausgetragen: eine Doppelrezension.

von Frank

Kaum etwas wurde in den zurückliegenden Jahren so oft tot gesagt (oder jedenfalls für gescheitert erklärt) wie „Multikulti“. Dass das Thema keineswegs an Brisanz verloren hat, zeigt sich immer wieder in öffentlichen Kontroversen: sei es Polemik gegen Zuwanderung aus Südosteuropa („Wer betrügt, der fliegt“), seien es Proteste deutscher Städter gegen die Unterbringung von Asylbewerbern in ihrer Nachbarschaft. Gerade im Europawahljahr 2014 steht für das multikulturelle Miteinander viel auf dem Spiel. Darum stellen wir euch zwei Bücher vor, die sich dem Thema – nicht nur fachlich gesehen – ganz unterschiedlich nähern.

Totgesagte leben länger?

„Dass Vielfalt eine gute Sache ist, scheint unumstritten zu sein. Die Frage ist nur: Vielfalt wovon?“ – Volker M. Heins beginnt sein Buch Der Skandal der Vielfalt: Geschichte und Konzepte des Multikulturalismus zugespitzt, aber treffsicher: Mode, Restaurants oder Reiseziele können den meisten Deutschen gar nicht vielfältig – gar „exotisch“ – genug sein. „Das Fremde muss genießbar, verdaulich und möglichst auch käuflich sein, um nicht Schrecken und Abwehr hervorzurufen.“
Auf diese Abwehr bezieht sich auch der auf den ersten Blick etwas reißerisch anmutende Titel seines Buches, angelehnt an eine Formulierung des französischen Anthropologen Claude Lévi‑Strauss: Dieser sprach vom Skandal der Vielfalt, der Gesellschaften aufschrecke, wenn sie sich mit kulturellen Abweichungen konfrontiert sehen. Dieses Bild ergänzt Heins um den wichtigen Gedanken, dass gerade in modernen Gesellschaften – unter anderem durch fortschreitende Verrechtlichung und mediale Aufmerksamkeit – die Gewohnheiten, Sitten und Ängste der Bevölkerung stärker vereinheitlicht sind. Damit würden „selbst geringe Abweichungen, die Einwanderer und andere ‚Fremde’ kennzeichnen, leicht zum Gegenstand von Stereotypen und negativen Klassifikationen.“ Und so reagieren Teile der Bevölkerung auch heute sehr schnell negativ auf Fremdes, vermeintlich Bedrohliches.
Heins, wissenschaftlicher Leiter des Forschungsbereichs „Interkultur“ am Kulturwissenschaftlichen Institut Essen, definiert den Multikulturalismus einerseits als Denkhaltung (eine „in ihrem Kern liberale philosophische Perspektive“), andererseits als politische Reformbewegung. Als letztere laufe er „auf eine kulturelle Denationalisierung der Nationalstaaten hinaus“, in denen er umgesetzt wird. Insofern ist für Heins eine Gesellschaft nicht einfach dadurch multikulturell, dass in ihr Einwanderer und Minderheiten präsent sind. Sondern dadurch, dass die in ihr vorherrschenden Regeln nicht repressiv oder auf Assimilation ausgelegt, sondern – wie er es ausdrückt – „differenzsensibel“ sind. Dazu zählt er u. a. die Einführung der doppelten Staatsbürgerschaft, Ausnahmeregelungen zu bestimmten Vorschriften (von der Steuerbefreiung bis zum straffreien Schächten) sowie gezielte Antidiskriminierungsmaßnahmen. Dass er einen breiten Multikulturalismus-Begriff vertritt, der nicht rein kulturell-religiös determiniert ist, zeigt sich daran, dass er solche Maßnahmen auch zugunsten von Gehörlosen fordert.

Multikulti aus Kanada

Der Untertitel Geschichte und Konzepte des Multikulturalismus kommt in den ersten zwei Dritteln des Buches zum Zuge, in denen Heins zunächst die politische Theorie hinter „Multikulti“ und deren Vorgeschichte rekonstruiert – interessanterweise beginnend bei Montesquieus Lettres Persanes. Die Wahl der fiktiven Perser-Briefe als Eröffnung dieser Ideengeschichte kann man dabei sicher ebenso hinterfragen wie die Repräsentativität der späteren Fallbeispiele. Zunächst aber zeichnet Heins die Verbindung des europäischen Nationalstaats und der Politik der Assimilation nach: anhand des Umgangs der Kolonialmächte Großbritannien und Frankreich mit „ihren“ Fremden in den beherrschten Gebieten, des Bismarckschen Kulturkampfes sowie anhand der Sonderstellung der Juden in Europa, deren Anpassungsbemühungen er beschreibt.
Heins hebt darauf ab, dass die Idee des Multikulturalismus – ausgerechnet diese, der immer wieder die Krise oder gar das Scheitern attestiert wird! – selbst aus dem Scheitern der Vorgänger hervorgegangen ist: Die allmähliche Abkehr in den meisten westlichen Staaten von einer Politik der Assimilationsbestrebungen seit den 1970er Jahren bildet den Anknüpfungspunkt für verschiedene Konzepte einer „Politik des Multikulturalismus“. Deren gedankliche Ursprünge sieht Heins in Kanada, bei Denkern wie Charles Taylor und James Tully. Doch er nimmt nicht nur deren und andere Theorien des Multikulturalismus in den Blick, sondern auch die Kritiker des Konzepts, darunter u. a. Jürgen Habermas, aber auch Gegenargumente von feministischer Seite (die beispielsweise auf die Unterdrückung von Frauen in einigen „fremden“ Kulturen abzielen).
In dieser Kritik zeigen sich bereits einige Argumente der gesellschaftlichen Debatten, die Heins im Sinn hat, wenn er nach diesem umfangreichen Theoriediskurs auf die praktische Ebene des Jetzt zu sprechen kommt – und das, was er das „Unbehagen in der Multikultur“ nennt. Exemplarische Streitpunkte: Kleidungsstücke wie das Kopftuch, rituelle Beschneidung als Körperverletzung oder das Spannungsfeld zwischen Kunstfreiheit und Blasphemie. Spätestens hier, im letzten Drittel des Buches, zeigt sich, dass Heins’ Skandal der Vielfalt doch eher eine Verteidigungs- als eine Streitschrift ist. Das äußert sich einerseits in einem häufig leidenschaftlichen, teils regelrecht wütenden Duktus, andererseits darin, dass Kritik an der Praxis des Multikulturalismus an einigen Stellen fast handstrichartig abgekanzelt wird.
Das ist freilich eher als Gebrauchshinweis denn als Warnung zu verstehen. Heins liefert mit seiner Tour de Force durch die (Ideen-)Geschichte des Multikulturalismus eine theoriebasierte Argumentationshilfe zugunsten dieser Idee. Und er zeigt, dass eine multikulturelle Gesellschaft viel mehr als eine physisch-demographische Gegebenheit ist: „Die Tendenz zur kulturellen Pluralisierung ist nicht das Resultat einer grenzüberschreitenden Bewegung von Körpern, sondern der Beweglichkeit des menschlichen Geistes.

(Sprach-)Konflikte als Tabu?

Einen völlig anderen Zugang – nicht nur was den fachlichen Hintergrund betrifft – findet der Leser bei Uwe Hinrichs und seinem Multi Kulti Deutsch: Wie Migration die deutsche Sprache verändert. Der Professor für Südslavische Sprach- und Übersetzungswissenschaft an der Uni Leipzig will zeigen, welche Sprachen durch die Migration nach Deutschland kamen und wie sie das Deutsche beeinflusst haben.
Hinrichs Buch entstand aus einem Essay von ihm, der Anfang 2012 im Spiegel erschienen war und sich bereits mit den Veränderungen der deutschen Umgangssprache befasst hatte. Das Interesse und die heftigen Reaktionen darauf erklärt sich Hinrichs damit, dass „dieses Thema über Jahrzehnte ein subtiles, wohlgehütetes Tabu war und noch immer ist“. So herrsche weitgehend Unklarheit in diesem Bereich, was nicht zuletzt Versäumnis einer linguistischen Wissenschaft sei, „die sich gegenüber der Migration und ihren Einflüssen auf die deutsche Sprache bis heute seltsam lautlos verhält“. Das eigentliche Motiv für diese Zurückhaltung sei die in Deutschland besonders ausgeprägte Gefahr, durch die Thematisierung von Sprachkonflikten als ausländerfeindlich oder ewiggestrig zu gelten. Auch beklagt er die „schier unantastbare Macht der Political Correctness“, der er sich immer wieder in inniger Abneigung verbunden zeigt.
Ganz anders als Heins, dessen Skandal der Vielfalt eine Leidenschaft für „Multikulti“ atmet, tritt Hinrichs eher als ein interessierter, unterbewusst wohl überaus skeptischer Beobachter auf. Er beeilt sich freilich schon in seinen Vorbemerkungen zu versichern, dass er professionell und privat seit Jahrzehnten freundschaftlichen Kontakt zu Migranten verschiedener Herkunft unterhält, selbst zahlreiche für das Buch relevante Länder bereist hat und mit der jeweiligen Sprachpraxis vertraut ist. Hauptquellen seiner im Buch verwendeten Beispiele seien daher auch „die eigene, über lange Jahre gefestigte Erfahrung und penible Beobachtung, die ständige jahrzehntelange Praxis mit dem Migrantendeutsch und, daraus erwachsen, eine Art unbestechlicher Intuition“.

Der Schuster bei seinen Leisten, bitte!

Was Hinrichs zeigen will ist ein Wandel, der vor allem „die spontan gesprochene Umgangssprache in ungezwungenen Situationen“ durchdringt, bedingt durch das Nebeneinander dutzender fremder Sprachen sowie einer Mehrsprachigkeit jener Bevölkerungsteile mit ‚Migrationshintergrund’. Nicht zuletzt über die Medien würden diese neuen Formen dann in die Gesellschaft getragen und erzeugen nach und nach Veränderungen in der Sprechnorm. Hochburgen seien dabei – aufgrund des häufigen Sprachkontaktes – die (west-)deutschen Großstädte.
In einem ersten Schritt stellt Hinrichs uns die „wichtigsten Kontaktzonen“ der europäischen Sprachen vor und gibt daran anknüpfend einen Überblick der Migration nach Deutschland. Hier wirkt der Sprachwissenschaftler jedoch alles andere als sattelfest, wenn er sich – anders als in den übrigen Kapiteln – immer wieder auf ganze Absätze lange, direkte Zitate aus anderen Publikationen stützt. Noch dazu verfällt er (wohl unbewusst?) in die ‚immer mehr Migranten’-Steigerungslogik, spricht über „die sogenannten Asylanten“, die ab Mitte der 1980er Jahre „mit Macht auf der Bühne der deutschen Zuwanderung“ erscheinen – die Kritik an solchen Formulierungen würde Hinrichs selbst wohl unter der ihm suspekten „Macht der Political Correctness“ verbuchen. Wenn er dann aber ausgerechnet die Jahre 1991 bis 1994 ins Feld führt, in denen tatsächlich insgesamt über eine Million Menschen Asyl in Deutschland beantragten, ist das mindestens irreführend: Die ersten Jahre des Jahrzehnts sahen nie wieder da gewesenen (und alles andere als repräsentative) Spitzenzahlen bei Asylanträgen – nicht nur in Deutschland.

Der Schuster bei seinen Leisten, danke!

Wer es – wenn auch kopfschüttelnd – durch das Migrationskapitel geschafft hat, wird allerdings belohnt. Wenn Hinrichs über Sprachfamilien, Sprachtypen und ihre jeweilige Nähe oder Ferne zum Deutschen spricht, ist er in seinem linguistischen Element. Auch die anschließenden kurzen Portraits der wichtigsten „Migrantensprachen“, die Auskunft geben über internationale Verbreitung, kulturellen und sprachgeschichtlichen Hintergrund sowie Grundzüge der Grammatik, sind keineswegs grau und theoretisch, sondern auch für Nicht-Linguisten spannend und leicht verständlich. Selbst einige Alltagsvokabeln kann man als Leser mitnehmen – etwa, dass das Wort ‚Balkan’ aus dem Türkischen stammt (und ‚Gebirgszug’ bedeutet). Anknüpfend daran gibt Hinrichs im folgenden Kapitel Grundinformationen zu verschiedenen Formen von „Migrantendeutsch“, also den jeweiligen Färbungen durch die Spezifika der Herkunfts- oder Muttersprache.
Diese Kapitel von Hinrichs Buch sind wirklich bestens geeignet, um für zahlreiche Aha-Momente beim deutschen Muttersprachler zu sorgen; hier merkt man dem Hochschulprofessor seine Erfahrung als Vermittler linguistischen Wissens an. Wer ihm in die Spezifika der jeweiligen Sprache – etwa die Rolle des Verbs im Arabischen – gefolgt ist, entwickelt eine gewisse Ahnung davon, welche Aspekte des Deutschen für Sprachenlerner besondere Herausforderungen bergen – oft, weil es schlichtweg keine Entsprechungen dafür in der Grammatik ihrer Muttersprache gibt.

Mehr Fragen als Antworten

Wenn Hinrichs dann abschließend die (eigentlich im Untertitel angekündigten) Veränderungen der gesprochenen deutschen Standardsprache beleuchtet, macht das allerdings letztlich nicht einmal 20 Prozent des Buches aus. Im Kern identifiziert er eine aufgrund der zahlreichen Sprachkontakte „kommunikativ bedingte Vereinfachung der Grammatik“, sei es in phonetischer, semantischer oder syntaktischer Hinsicht. Ein Beispiel? Auch für Hinrich – man erinnere sich an Bastian Sick – „stirbt“ der Genitiv zuerst. Auch werde sich das gesprochene Deutsch im Laufe der Zeit auf einen anderen Sprachtypus zu bewegen und seinen westeuropäischen ‚Nachbarn’ ähnlicher werden.
In seiner Beschreibung der Veränderungen transportiert Hinrichs – wie schon beim Thema Migration – immer wieder ein subtiles Unbehagen: sei es bei den Bemühungen „eine gewisse Ordnung in das Chaos zu bringen“ oder wenn er sagt das Deutsche zeige „deutliche Spuren, ja Blessuren“ durch den Sprachwandel.
Auch die Beispiele, die Hinrichs für den migrantischen Einfluss auf das Deutsche ins Feld führt, und die darin zugrunde gelegte Kausalität sind überaus fragwürdig. In den Vorbemerkungen des Buches hatte er selbst noch angegeben, es sei „zur Zeit unmöglich“ die Veränderungen „schlüssig zu beweisen“, auch fehle es an „hieb- und stichfesten Daten zu den sprachlichen Fakten“ – nur um zum Ende seines Buches seine „Arbeitshypothese“ mit den Worten „Es ist vollkommen augenfällig und über jeden Zweifel erhaben…“ zu beginnen.
Vielleicht sollte er sich lieber auf jene Bescheidenheit seiner Vorbemerkungen besinnen, wo er über den Sprachwandel des Deutschen reflektiert und erklärt, die Herkunftssprachen und das Deutsch der Migranten seien „keineswegs die einzigen Faktoren, die den aktuellen Sprachwandel vorantreiben – vielleicht sind sie noch nicht einmal die maßgeblichen“. Nein, auch neue Kommunikationsformen des Internet spielten eine Rolle, die der Globalisierung geschuldete Anglisierung sowie ein „gesunkenes Niveau der Allgemeinbildung und ein nachlassendes Interesse an ihr“ (das er allerdings nicht belegen kann oder sich auch nur bemüht, es nachzuweisen).

Das Sein und das Bewusstsein

So zeigt sich vor allem am Schluss von Hinrichs Buch, dass er mit Migration als Erklärungsfaktor zu kurz greift, gerade in seiner Berufung auf alltägliche (Sprach-)Praxis. Denn in Thüringer Kleinstädten beispielsweise – die nun nicht gerade für ihre hohe Zahl von Migranten bekannt sind – finden sich ebenso falsche Syntax im Sprachgebrauch. Vielleicht ist also der von ihm identifizierte Wandel vielmehr Ausdruck eines veränderten Sprachbewusstseins (oder vielmehr eines pragmatischen -unbewussteins), das linguistische Regeln schlicht links liegen lässt. Wenn Hinrichs diagnostiziert, es gäbe im Deutschen „keine eindeutige, einziggültige Norm mehr und das Norm-Bewusstsein als solches ist deutlich gelockert“, sollte er eines nicht vergessen: Selbst in der stärker standardisierten Schriftsprache haben die Reformen der letzten Jahre ein Mach-was-du-willst hervorgebracht, wie ein Blick in den Duden zeigt. Das kann, muss man aber nicht schlimm finden – mit den Migranten hat es allerdings kaum etwas zu tun.

Volker M. Heins:
Der Skandal der Vielfalt. Geschichte und Konzepte des Multikulturalismus
Campus-Verlag 2013
205 Seiten
19,90 €

Uwe Hinrichs
Multi Kulti Deutsch. Wie Migration die deutsche Sprache verändert
C.H. Beck 2013
294 Seiten, mit 6 Karten
14,95 €

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