Rainald Grebe inszeniert am Centraltheater das Grimmsche Erbe als bunte und laute Märchenstunde.
von Frank
Stolze 200 Jahre hat die Märchensammlung der Gebrüder Grimm nun schon hinter sich: unzählige Male gedruckt, vorgelesen, in über 160 Sprachen übersetzt. Die Geschichten haben ihren Weg um die Welt gemacht – und von Generation zu Generation. Dass die ursprünglichen Erzählungen dabei für Kinderohren aufbereitet und „bereinigt“, teilweise weichgespült wurden, mag kaum verwundern. Es ist aber Ansporn für Rainald Grebe, ein Zurück zu den Originalen zu fordern und sich zwei Jahrhunderte nach den Brüdern Jacob und Wilhelm daran zu machen, die Märchen wieder (neu) zu erzählen.
„…bring mir die Stunden meiner Jugend noch einmal zurück.“
Die Leipziger Theaterbühne erlebt eine über zweistündige kollektive Märchenstunde zwischen Klamauk und Nostalgie. Natürlich spielt Grebe, der neben eigenen Parts auch die Regie von „Grimms Märchen“ übernimmt, an einem solchen Abend mit den Kindheitserinnerungen seines Publikums. Die nahezu Komplett-Rezitation mancher Märchen, die er dabei einbaut, wirkt allerdings eher etwas ermüdend. Und auch die Erinnerungen rüstiger Weltkriegsomas wecken den Hang zum zeitweisen Fremdschämen. In diesen Momenten nutzt man am besten die geistige Freizeit, um die enorm detailverliebte Bühnen-Deko auf sich wirken zu lassen. Der ganze Abend arbeitet atmosphärisch wundervoll mit Licht und Schatten, mit Nebel und Bild-Projektionen, die den Zuschauer fesseln.
Wie schon bei früheren Grebe-Inszenierungen entfaltet sich auf der Bühne eine Art multimedialer Workshop: Statt einer Handlung bietet er dem Publikum eine bunte Revue; Grebe lässt seine Schauspieler sie selbst spielen, von sich erzählen, die Märchen kommentieren. Grebe selbst zeigt in der Rolle beider Grimm-Brüder, wie die gesammlten Geschichten heute kollektives, fast globales Kulturgut und nicht zuletzt auch Marktfaktor sind (Stichwort „Märchendising“).
Die rote Kappe der Menstruation
Auch die Metaphorik und die Moral der Erzählungen werden – beinahe tiefenpsychologisch – hinterfragt. Da wird aus der namensgebenden roten Kopfbedeckung eines Mädchens das Symbol ihrer sexuellen Reifung; im animalischen Fressakt des Wolfes offenbart sich die lüsterne Dominanz des Mannes über sie. Überhaupt zeigen Grebes Darstellungen der Grimmschen Storys einen gewissen Hang zum Kannibalischen, zum Tod (vor allem toten Kindern)… Und hier stimmt er durchaus mit den Gebrüdern überein – man erinnert sich schließlich kaum an ein Märchen, in dem es nicht mindestens ein Todesopfer zu verzeichnen gibt.
Dazu kommt, dass Grebe freilich schon von Berufswegen Spaß an der Provokation hat. Esel-Anal-Fisting oder ein Kleinwüchsiger als lüsterner Froschkönig: Man runzelt die Stirn; hier und da schleicht sich vielleicht ein „Muss das sein?“ ein. An einigen anderen Stellen schießt der gebürtige Kölner allerdings – ganz bewusst und ganz im Geiste des modernen Anarcho-Theaters – über das Ziel hinaus. Den Ofen-Tod der Hexe mit Auschwitz in Verbindung zu bringen, die Anspielungen auf Pädophilie: Hier weicht die Frage „Muss das sein?“ einem durchaus entnervten Kopfschütteln, denn Grebes Stück rutscht bei grenzwertigen Themen leider (zu) oft ins Plump-Provokative ab.
Viel solider präsentieren sich die humoresken Gesangs- und Kabaretteinlagen, wie man sie aus seinen Solo-Programmen oder vom „Orchester der Versöhnung“ kennt. Grebe ist dort am stärksten, wo er bei diesem jahrelang erprobten Handwerk bleibt. Apropos Handwerk: Leider nutzt der studierte Puppenspieler auch diese Kunst viel weniger, als bei der Märchen-Materie wünschenswert gewesen wäre.
Er unterhält, er tobt sich aus, doch insgesamt bleibt Grebe mit dem Stoff leider hinter seinen Möglichkeiten zurück.
(alle Fotos: © R.Arnold/Centraltheater)
Weitere Termine von „Grimms Märchen“ am Centraltheater Leipzig: 23.06., 29.06., 30.06., 05.07.2012
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