Wo liegen die Grenzen zwischen Geschichtsschreibung und Literatur? Die Fachwelt diskutiert, wie man Historisches erfahrbar machen kann.
von Franziska Schmidtke
Die großen Werke der Geschichtswissenschaft erfreuen sich selten eines breiten Leserkreises. Meist eher zu finden in den Regalen der Bibliotheken als in den Auslagen der großen Buchläden, werden sie oft nur von einer kleinen, eingeweihten Leserschaft genossen.
Geschichtsepos und Kassenschlager
Saul Friedländer, Historiker an der University of California in Los Angeles, schaffte mit seiner Gesamtdarstellung der nationalsozialistischen Judenvernichtung den Sprung in die Bestsellerlisten. Nicht nur vom Fachpublikum in den höchsten Tönen gelobt, sondern auch ein wirklicher Publikumserfolg wurde „Das Dritte Reich und die Juden“. Die internationalen Auszeichnungen, wie der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels und der Pulitzer-Preis, sind nur der deutlichste Beleg für diesen Erfolg. Ohne Frage, Friedländer erschuf ein Opus Magnum, ein epochales Werk der Geschichtsschreibung. Aber was unterscheidet ihn von anderen Historikern? Was macht seine Darstellung – mit 1.300 Seiten kein Buch für einen Sonntagnachmittag – so lesenswert für den interessierten Laien? Diese Thematik wurde auch im Juli dieses Jahres auf einer Konferenz debattiert, die das „Jena Center. Geschichte des 20. Jahrhunderts“ veranstaltete. Für Hayden White, emeritierter Professor für Vergleichende Literaturwissenschaft an der Stanford University, steht die Antwort fest: Friedländers Erfolg begründet sich durch die Literaturhaftigkeit seines Werkes. Man kann White tatsächlich Recht geben: Die in „Das Dritte Reich und die Juden“ verwendeten Stilmittel lassen die Erzählung lebendig wirken.
Was heißt hier unwissenschaftlich?
Das wohl stärkste Stilmittel des Buches ist die Emotionalisierung. Es ist die Stimme der Opfer, die durch die Geschichte des Zweiten Weltkrieges führt. Ihre Gedanken und Gefühle, niedergeschrieben in Tagebüchern und Briefen, wurden von Friedländer aufgearbeitet und führen durch die Ereignisse zwischen 1933 und 1945. Ein Schaudern, eine stete Fassungslosigkeit über die Vorgänge erfasst den Leser bei Tagebuchausschnitten unbekannter Opfer. Dabei bleiben ihm aber auch die Perspektiven führender Nationalsozialisten nicht verschlossen: Auch Zitate von Joseph Goebbels fließen in die Darstellung ein. Durch solche zahlreichen persönlichen Eindrücke wird der Leser emotional involviert, was scheinbar im Gegensatz zu wissenschaftlicher Distanz und Objektivität steht.
„Ich hoffe, dass der Tod gut zu Tamarczyk war und sie gleich geholt hat. Und dass sie nicht leiden musste wie ihre Gefährtin Esterka, bei der man gesehen hat wie sie erwürgt worden ist.“
(Tagebucheintrag, zitiert in „Das Dritte Reich und die Juden“)
Friedländer schildert die Ereignisse nicht streng chronologisch, sondern macht sich das Stilmittel des emplotment zu Eigen. Er modelliert die verschiedenen Narrative zu einem Plot, einer Geschichte. Dabei stehen Analysen, Beschreibungen und subjektive Eindrücke nebeneinander, manchmal in harten Brüchen, aber in einer Form, die einen Spannungsbogen bereithält. Es sind diese Brüche und scheinbaren Sprünge, die Friedländer verwendet, um nicht bei einer Perspektive stehen zu bleiben. Schließlich ist es gerade die Vollständigkeit der Geschichte, die das Werk für viele Rezensenten so eindrucksvoll machte. Was bedeutet die Verwendung dieser Stilmittel für ein historisches Werk? Ist es dadurch zur unwissenschaftlichen Literatur geworden? Soweit wollte auch Hayden White nicht gehen. Er sprach von einer Form, die er ästhetisierendes Schreiben nannte, also eine Schreibweise, die Literatur und Historiographie zusammenbringt.
Integrierte Geschichte statt Literatur
Diesem Vorschlag von White mochte sich Friedländer jedoch nicht anschließen. Unumwunden gab er zwar zu, die beschriebenen Elemente verwendet zu haben – allerdings aus methodischen Gründen. Das schiere Maß an Quellen, Daten und Fakten, die in seine Gesamtdarstellung des Holocausts einfließen mussten, zwangen ihn, die Form des emplotment zu nutzen. Die Methodik, nicht der gebannte Leser, stand damit im Vordergrund. Die klare Botschaft Friedländers lautete also: Er wollte ein geschichtswissenschaftliches Werk schreiben – und hat dies getan. Außerdem warnte Friedländer davor, eine Kategorie zwischen Literatur und Geschichtswissenschaft schaffen zu wollen und betonte einen wichtigen trennenden Punkt: Literatur kann und darf Fiktion sein, Historiographie besteht aus realen Ereignissen und Fakten. Auch Norbert Frei, der die Professur für Neuere und Neueste Geschichte an der FSU Jena inne hat und die Historikertagung im Rahmen des „Jena Centers” initiiert hatte, verdeutlichte in einem Statement, dass Friedländer intuitiv literarische Stilmittel in seine Arbeit einfließen ließ. Es liege in der Natur der Sache, so Frei weiter, dass Geschichts- und Literaturwissenschaftler Friedländers Werk auf eine bestimmte Weise lesen würden und die literarischen Stilmittel stark hervorhöben. Diese waren es allerdings nicht, um die es Friedländer ging; es waren die Stimmen der Opfer, denen der Autor Gehör verleihen wollte.
Das theoretische Gerüst, auf dem Friedländers Geschichtsschreibung fußt, nennt er Integrierte Geschichte. Dieses hatte er bereits vor einigen Jahren in den wissenschaftlichen Diskurs eingebracht als eine Möglichkeit, den Holocaust zu erzählen. Die genannten Stilmittel sind darin enthalten und zielen auf eine spezielle Form der Geschichtsschreibung. Diese berücksichtigt umfangreich verschiedene Entwicklungen, bleibt dabei historisch korrekt und objektiv, aber lässt auch das Einzelschicksal nicht ins Hintertreffen geraten.
Als seinen Eindruck von der interdisziplinären Tagung hielt Norbert Frei fest: „Das Spannungsverhältnis zwischen Geschichtsschreibung und Literaturwissenschaft ist auf interessante Weise deutlich geworden: Natürlich ist sich der Historiker in der Regel der Wirkung seiner Darstellung bewusst. Aber er wählt die Form meist eher intuitiv – und wundert sich dann gelegentlich, was die Literaturwissenschaft als ,konstruiertes Narrativ‘ herausarbeitet.“ In diesem Sinne ist eine Trennung beider Fächer weder wünschenswert noch gewollt; im Gegenteil: Die Eindrücke verschiedener Wissenschaftsrichtungen sind zu beachten. Saul Friedländers Werk ist ein gutes Beispiel für eine Arbeit, die nicht starr in scheinbaren Schranken verharrt. Es zeigt vielmehr einen Weg auf, Historiographie zu entstauben und lesbar zu machen.
Franziska Schmidtke (25) hat in Jena und Jerusalem Politikwissenschaft, Neuere Geschichte und Soziologie studiert. Zur Zeit promoviert sie bei Prof. Dr. Heinrich Best im Projekt „Parlamentarische Eliten“ des Sonderforschungsbereichs 580.
Saul Friedländer und die Integrierte Geschichte (Lektüretipps)
Saul Friedländer: Das Dritte Reich und die Juden.
Gesamtausgabe, dtv 2008, 1.328 Seiten
19,90 €
Das Werk ist in einer gekürzten Gesamtausgabe auch für 7,00 € bei der Bundeszentrale für Politische Bildung (bpb) erschienen.Bereits 2007 erschien in der Reihe „Vorträge und Kolloquien“ des Jena Center. Geschichte des 20. Jahrhunderts von ihm:
Den Holocaust beschreiben. Auf dem Weg zu einer integrierten Geschichte
Wallstein Verlag 2007, 176 Seiten
15,00 €
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