Welche Rolle können deutsche Schokolade und US-amerikanische Kinderlieder mitten im indischen Dschungel spielen? Ein Mitglied der Jenaer AIESEC-Gruppe berichtet von ihrem zweimonatigen Praktikum auf dem Subkontinent.
von Ulrike Linsel
In Deutschland ist es jetzt 12 Uhr mittags. Genau genommen bin ich fast 24 Stunden durchgeflogen. Am Flughafen angekommen, mit noch scheuem Blick und einer gefühlten halben Tonne Gepäck, höre ich plötzlich eine einheimische Frau schreien. Eine gar nicht mal so kleine Ratte huscht an ihren Füßen vorbei und verschwindet sogleich wieder in einem Loch unter den Sitzreihen des Wartebereichs am Flughafen. Nach diesem ersten, bleibenden Eindruck verlasse ich nun also die gut gekühlte Flughafenhalle und werde von einer feuchten und drückenden Hitze begrüßt. Es ist Anfang August und der Monsun hat seinen Höhepunkt erreicht. Müll von unten und Regenwasser von oben werden in den nächsten zwei Monaten meine ständigen Begleiter sein. Doch daran werde ich mich schnell gewöhnen – und in Indien ankommen.
Vor etwa einem halben Jahr hatte ich beschlossen, für ein Praktikum auf den Subkontinent zu reisen. In Deutschland halfen mir die studentischen Mitglieder von AIESEC dabei, meinem Ziel Schritt für Schritt näher zu kommen: Sie gaben mir Tipps zu Bewerbung, Visum, Impfungen, Flug – und zum Umgang mit eventuellen Kulturschocks. Sehr schnell bekam ich dann ein Praktikum in einer NGO für Child Welfare in Südindien. Ich freute mich auf die kommenden zwei Monate und meine Arbeit in einem Kinderdorf.
Kaum dass ich den Flughafen verlasse, stürzt sich eine Horde Taxifahrer auf mich. Ich folge dem, der meinen Koffer schon in sein Auto packt, gebe ihm meine Zieladresse und dann geht eine erste abenteuerliche Fahrt los, denn klare Verkehrsregeln gibt es anscheinend nicht. Eine Rikscha saust an uns vorbei und ich frage mich, wie dieses kleine Gefährt schneller sein kann als mein Taxi.
Old Mac Donald im indischen Dschungel
Zwei bildgewaltige und intensive Wochen vergehen. In dieser Zeit besuche ich viele buddhistische Tempel und beobachte die Menschen in völliger Ruhe bei ihren Gebeten und Ritualen, während derer sie sich von mir scheinbar gar nicht gestört fühlen. Einmal werde ich sogar eingeladen mitzumachen, bekomme geweihtes Kokoswasser über den Kopf geträufelt, einen Punkt mit rotem Pulver auf die Stirn gemalt, Blüten für mein Haar und laufe mit den Betenden mehrere stille Runden in dem Tempel.
Mein nächster Weg führt mich zum eigentlichen Ziel: Namma Bhommie – das ist es also, wow! Namma Bhommie heißt so viel wie „mein Dorf“ und ist der Name des Camps, wo ich nun mit rund 60 Kindern zusammen leben und arbeiten werde. Es liegt nicht weit von der Hauptstraße entfernt und doch mitten im Regenwald. Meine chinesische Kollegin Emily kam ebenfalls über AIESEC zu diesem Praktikum. Wir werden wie Gäste behandelt, bekommen Betten in einem Backsteinhaus und sogar einen kleinen Wasser-Erhitzer. Was für ein Luxus, sich nach zwei Wochen wieder mit warmem Wasser waschen zu können.
Sofort nach unserer Ankunft werden wir von den großen und kleinen Kindern umringt. Sie sind kein bisschen schüchtern, erzählen munter drauf los, die meisten in ihrer Muttersprache Kannada – nur wenige können schon ein bisschen Englisch. Natürlich haben Emily und ich Geschenke dabei: Schokolade. Es scheint, als hätten die Kinder genau darauf gewartet. Sofort zerren sie uns die Süßigkeiten aus der Hand und rennen mit ihnen weg. Damit haben wir nicht gerechnet. In den nächsten Tagen heißen wir beide auch nur noch „choclat“ bei den Kindern.
Trotz häufiger Verständigungsprobleme können Emily und ich einiges mit den Kindern unternehmen. Beginnen soll es mit Englischunterricht. Mit dem berühmten Kinderlied „Old Mac Donald Had a Farm“ versuchen wir einzusteigen. Den Refrain haben wir an die Wand geschrieben, die Tiere mit ihrem Namen und Laut auf Plakate gemalt und trotzdem ist es gar nicht einfach, so viele Kinder unterschiedlichen Alters für eine Sache zu begeistern. Resultat dieser Unterrichtsstunde: Alle singen kreuz und quer „EE-I-EE-I-O“. Emily und ich haben Kopfschmerzen – aber die Kinder immerhin ihren Spaß.
Beiderseitige Horizonterweiterung – hoffentlich
So oder ähnlich vergingen noch sieben weitere Wochen. Den Kindern konnten wir nicht so viel Englisch beibringen, wie wir es uns gewünscht hätten. Trotzdem hoffen wir, ihr Leben in dieser Zeit ähnlich bereichert zu haben, wie sie unseres. Für die Kinder waren Emily und ich nur zwei von vielen, die ab und zu ihr Camp besuchen. Zwei Monate sind eine kurze Zeitspanne, in der wir nicht viel erreichen konnten. Die Kinder ein ganzes Jahr zu begleiten wäre effektiver. Ich bin dennoch froh, dass es dieses und weitere Camps der Art gibt, die eine ganze Schar von Kindern beherbergen und ihnen damit eine schulische Ausbildung garantieren, sie ernähren und von einem Leben auf der Straße fernhalten. Da mehrmals im Jahr ausländische Studierende als Praktikanten in das Camp kommen, haben die Kinder die Möglichkeit, ihren Horizont zu erweitern und einen Blick aus ihrem kleinen Dorf in die weite Welt zu erhaschen.
Wir konnten unsererseits zusammen mit den Einheimischen leben, ihr (überaus scharfes) Essen genießen, an ihren Gewohnheiten und Traditionen teilhaben; all das inmitten einer überwältigenden Flora und Fauna, wo das ein oder andere Äffchen dazugehört, wie in Deutschland die Katze zum Dorf. Noch in Indien wurde ich gefragt, ob ich hier im fremden Land etwas vermisse. Kurz musste ich überlegen, um schließlich sagen zu können: Nichts.
Ulrike Linsel (28) studierte Germanistik an der Uni Jena und absolvierte 2011 ein Praktikum in Indien. Zurück in Deutschland ist sie AIESEC bis heute als Mitglied treu geblieben. Sie möchte so auch anderen Studenten diese einzigartige Erfahrung eines Auslandspraktikums ermöglichen.
Mail: ulrike.linsel[ät]googlemail.com
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