Seit 100 Jahren wird eine Zukunft niedergeschrieben, die Niedergang, Terror und den Verlust jeglicher Individualität vorhersagt. Ein subjektiver Blick auf einige bedeutende Werke des Genres.
von gouze
„Der Sonnenuntergang der Menschheit“ – The Time Machine
Die Welt ist eine andere geworden im Jahr 802.701 – eine gänzlich andere. „Der Zeitreisende“, so der Name des Protagonisten in Herbert G. Wells The Timemachine, hat es nach Jahren harter Arbeit und sehnsuchtsvollen Wartens endlich geschafft, in die Zukunft zu reisen. In der Hoffnung einen weiter und vielleicht auch höher entwickelten Typ Mensch anzutreffen, begibt er sich auf die Reise. In dieser fernen Zukunft erwartet ihn niemand, der ihn hätte begrüßen können. Denn das, was sich nach fast einer Million Jahre aus dem Homo sapiens entwickelt hat, hat fast alles Menschliche verloren.
Einfach gestrickte Wesen von minderer Intelligenz, die Eloi, bewohnen nun die Oberfläche des Planeten. Klein gewachsene Abkömmlinge der einstigen Menschen, die naiv wie Kinder sind. Es leuchtet dem Zeitreisenden scheinbar ein, dass diese simplen Geschöpfe Angst vor der Dunkelheit haben, bis er selbst kennen lernt, was die Dunkelheit verbirgt. Dort lauern Morlocks, fleischfressende, nachtaktive Ungetiere, deren affenartige weiße Körper nachts zwischen den Eloi umherschleichen und einige von ihnen ihrer natürlichen Rolle zuführen: Beute zu sein. Die Vision, die Wells zeichnet, und die Gedanken und Handlungen, die er seinen Protagonisten vollziehen lässt, sind Zeichen seiner darwinistischen Haltung. Es gibt keine Verurteilung der Natur und der Wege, die sie beschritten hat. Dass sich zwei vom Menschen abstammende Arten in einer Räuber-Beute-Beziehung wiederfinden, wird nicht in ein moralisches Denkmuster gepackt.
„Gelobt sei Ford am Lenkrad“ – Brave New World
Geschichte wird im Jahr 632 nach Ford nicht mehr geschrieben. Fortschritt existiert nicht mehr, da er als Gefahr für eine vermeintlich friedliche Gesellschaft erkannt wurde. Kinder werden nicht mehr geboren, sondern „entkorkt“ – Embryonen wachsen in einer Nährlösung heran und werden, abhängig davon, welcher sozialen Klasse sie angehören sollen, an der natürlichen Entwicklung gehemmt. Alphas, Betas, Gammas, Deltas und Epsilons – in Serie gefertigt und vollkommen intakt. Nach ihrer gesellschaftlichen Funktion und damit verbundenen nötigen intellektuellen Fähigkeiten in mehreren Chargen zu Dutzendlingen gezüchtet. Liebe wird durch staatlich diktierten Sexkonsum ersetzt, Trauer mit einer glückverheißenden Pille weggewaschen.
Dem Protagonisten Sigmund Marx ist „seine Individualität zu Kopf gestiegen.“ Als Alpha mit einem Zuviel an kritischer Intelligenz zweifelt er an dem „Weltstaat“ und verstößt gegen die Vorschriften, indem er sich in seine Kollegin verliebt. Aldous Huxley hat mit Brave New World eine Gesellschaft skizziert, in der Individuen nicht mehr existieren. Eine durchrationalisierte Welt, in der jeder genormt wird, um seiner zugewiesenen Rolle zu entsprechen, zu deren Erfüllung er gezüchtet wurde.
„Zwei plus zwei ist fünf“ – 1984
Im Krieg mit Eurasien ruft die Partei zur „Hasswoche“. Doch weder das eine noch das andere ist den Menschen in 1984 unbekannt. Ozeanien, der Ort, den Orwell erdacht hat, um seinen Protagonisten Winston Smith seine eigene Unbedeutsamkeit erleben zu lassen, befindet sich immer in einem fingierten Krieg mit einem der anderen beiden Staaten Ostasien und Eurasien. Dieses Bedrohungsszenario dient als Mittel zum Zweck, die Bevölkerung Ozeaniens in Nahrungsmittelknappheit und in einem Zustand ständiger Überwachung zu halten. Dieses System bedient sich des von Kindesbeinen an eingebläuten Denunziantentums.
Orwells Feder entstammt das Bild eines Hybriden aus Faschismus und Stalinismus, gemalt in den sattesten und grellsten Farben. Ein anonymer, unangreifbarer Staatsapparat, der seine Bürger des Gedankenverbrechens bezichtigt, sobald sich in ihnen der geringste Zweifel an dessen Systemhaftigkeit regt. Winstons systemskeptische Haltung existiert bereits, als der Leser in eine aus Geschichtsverdrehung und Krieg bestimmte Welt eintaucht. In ihr ist die Lüge Wahrheit und was wahr ist, bestimmt der Große Bruder. Kurz nach dem Zweiten Weltkrieg erschienen, hätte dieser Roman warnen können. Vor dem Überwachungsstaat, den er Winston spüren und seinen Widerstand zermürben ließ; vor technologischem Fortschritt, der einem vermeintlichem Schutz dient und vor Gläubigkeit an Systeme, die sich um ihrer Existenz Willen erhalten.
„Fun is everything“ – Fahrenheit 451
Es riecht nach verbranntem Papier. Nach verkohlten Büchern – niedergebrannten Gedanken. Ray Bradburys zündende Idee, eine Welt zu zeichnen, in der übergroße Fernseher und die Pflicht zur körperlichen Ertüchtigung das geschriebene Wort verbannen. Fahrenheit 451 spielt in einer sehr nahen Zukunft. Eine Zukunft, von der Bradbury befürchtete, dass sie eintreten könne, nachdem Ende der Vierziger die mediale Revolution Einzug im amerikanischen Wohnzimmer hielt.
Es klingt absurd, aber die Feuerwehr löscht keinen Brand, sondern vernichtet Realität gewordenes Gedankengut. Schläuche, aus denen lodernde Flammen spritzen und gierig zerfressen, was keine Daseinsberechtigung haben darf. Während die Frau des Protagonisten, Guy Montag, die personifizierte Systemkonformität charakterisiert und auch in dieser Rolle verbleibt, wird durch einschneidende Erlebnisse wie den Freitod einer alten Dame an seinem Weltbild gerüttelt. Bradbury lässt seinen Montag, einen Feuerwehrmann, eine 180-Grad-Drehung von einem Instrument des Systems hin zum Rebellen vollziehen.
Gemein ist den nach 1900 erschienen Romanen die Sonderstellung ihrer männlichen Protagonisten. Smith, Montag und Marx sind nicht als gänzlich hilflose Mitspieler in ihrer Welt gefangen. Sie befinden sich in einer Position, die ihnen erlaubt, ein Aufbegehren zu wagen und ohne die ein Erkennen der eigenen Situation gar nicht möglich gewesen wäre. Der Staatsapparat ist immer eine entindividualisierende, überwachende Institution, die Denunziantentum nutzt, um Systemgegner zu überführen. Allerdings erfolgt keine gänzliche Eliminierung der Querulanten. In Brave New World wird der skeptische Protagonist Sigmund Marx auf eine Insel mit anderen Systemkritikern verfrachtet – was nicht einmal eine Strafe ist – und Orwell zeigt das Mittel der Folter und Gehirnwäsche, um Parteitreue zu erzwingen. Die vier Bücher lassen sich als Zeichen ihrer Zeit verstehen: 1984 als Angst-Reaktion vor einem dritten Weltkrieg, an dessen Ende ein Staat wie Ozeanien stehen könnte. Wells blickt mit seinem Roman in eine viel weiter entfernte Zukunft, an deren Ende nicht die Frage nach Individualismus oder Freiheit steht, sondern nach der Existenz irgendeines Lebens.
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