Filmverleihe und Synchronstudios entscheiden in Deutschland nicht nur darüber, welche Filme wir sehen, sondern auch wie. Ein Plädoyer für mehr Originalfassungen in Kino und Fernsehen.
von David
Nichts ist so, wie es sich anhört. Dank der Synchronisation kann sich in Deutschland hinter einem norwegischen Physiker ein tschechischer Widerstandskämpfer verbergen, ein amerikanischer Söldner kann zu einem deutschen Abenteurer werden – und Nazis können zu ungarischen Staatspolizisten, „verdammt harten Kerlen“, „dunklen Mächten“ oder Drogenhändlern mutieren.
Als Filme Ende der 1920er Jahre sprechen lernten, ergab sich das Problem, wie man die neu entstandenen Sprachbarrieren überwinden sollte. In Deutschland setzte sich schnell die Synchronisation durch: Deutsche Sprecher trugen die übersetzten Dialoge lippensynchron vor. Sie eröffnete zugleich ganz neue Perspektiven für Zensoren. Lewis Milestones US-Verfilmung von Erich Maria Remarques Skandalroman Im Westen nichts Neues ließ 1931 Rechtskonservative und Nationalsozialisten Sturm laufen. Dies, obwohl er schon durch Kürzungen und Dialogänderungen entschärft worden war. Die Nazis verboten den Film 1933. Nach dem Krieg wurde er zwar wieder in Deutschland gezeigt, bis in die 1980er Jahre jedoch nur in der zensiert-synchronisierten Fassung. Zwischen 1933 und 1941 führten deutsche Kinos zahlreiche US-amerikanische Filme vor, da sie sich als Kassenschlager erwiesen. Nicht nur mit Hilfe von Schnitten, sondern auch mit der Synchronisation konnten die Ursprungsdialoge an das „deutsche Volksempfinden“ angepasst werden, etwa durch die Entschärfung sexueller Anspielungen.
Während in den Niederlanden und im skandinavischen Raum die meisten Filme untertitelt in Originalsprache – also „OmU“ – gezeigt werden, etablierte sich nach dem Zweiten Weltkrieg in ganz Deutschland die Synchronisation als dominierende Form der Übersetzung nicht-deutschsprachiger Filme. Alle waren glücklich: Das deutsche Publikum war seit Anfang der 1930er Jahre daran gewöhnt, die Alliierten konnten die Marktdominanz ihrer eigenen Filmindustrie in Deutschland dadurch leichter durchsetzen, und Zensoren hatten neben der Schere und dem Verbot ein weiteres Mittel, um sicher zu stellen, dass subversive Inhalte die deutschen Zuschauer nie erreichen würden.
„Jack“ Gruber ist kein Nazi!
Zusammen mit der Freiwilligen Selbstkontrolle der Filmwirtschaft (FSK) waren und sind besonders die Filmverleihe stets bereit, Filme zu verändern: Profitgier ergänzte die Moralin-Säure. Das anschaulichste Beispiel von Synchronisations-Zensur bietet Michael Curtiz‘ antifaschistisches Melodrama Casablanca von 1942. In der ersten deutschen Fassung von 1952 fehlten über 20 Minuten: Alle Passagen mit einem deutschen SS-Major (ironischerweise von einem deutschen Emigranten dargestellt) und das berühmte Gesangsduell zwischen Franzosen und deutschen Offizieren. Aus einem von den Nazis gejagten tschechischen Widerstandskämpfer wurde ein norwegischer Wissenschaftler. Erst 1975 wurde der Film ungekürzt und in einer wieder sinngemäßen Synchronisation in Deutschland gezeigt.
Casablanca ist keineswegs eine Entgleisung, sondern nur das berühmteste Beispiel für die intensive Nutzung der Synchron-Zensur, um systematisch jegliche Anspielungen auf den Nationalsozialismus aus Filmen zu eliminieren. Auch unpolitische, aber negative deutsche Figuren wurden in den deutschen Filmfassungen eliminiert: Durch Austausch der Nationalität – wohl nach dem Motto, dass nur andere Nationalitäten böse Menschen hervorbringen – oder durch Verschweigen. Noch in den 1980er Jahren wurde mit der „Eindeutschung“ des gesamten Dialogs und kleinen Namensänderungen verschleiert, dass die Terroristen in Die Hard – Stirb langsam deutscher Herkunft sind.
Nebst der Lösung der „deutschen“ Problematik praktizierten und praktizieren deutsche Synchronstudios im Auftrag der Filmverleihe auch die üblichen Zensuren: Vulgäre Ausdrucksweisen, sexuelle Anspielungen (besonders homosexuelle) und die Thematisierung von Ehebruch, Prostitution und Pädophilie sind dem deutschen Publikum teils bis heute immer wieder dank weitsichtiger Synchron-Autoren erspart geblieben.
Verleiher (und in ihrem Auftrag Synchronstudios) zensieren nicht nur, sondern verändern auch willkürlich die Filmdialoge, um die Filme dem „Publikumsgeschmack“ anzupassen (sich anmaßend, dass sie jenen à priori kennen). Dabei werden typischerweise differenzierte Dialoge systematisch stereotypisiert und sachliche Äußerungen emotionalisiert, romantisiert, verniedlicht oder gar ins Dämliche gezerrt. Der Anglist Gerhard Pisek stellt solche Änderungen zu Dutzenden in den Synchronfassungen von Woody-Allen-Filmen fest: „elderly women“ werden „uralt“, „that guy with you“ wird zum „Clown da neben dir“, „women“ werden zu „tollen Bienen“ und aus einem „You‘re going to love her“ wird ein „Da zieht‘s dir die Schuhe aus“. Diese „abgedroschenen Wortwitze“ entstehen, so Pisek, mitnichten aus dem Zwang der Lippensynchronität heraus, sondern erschweren diese oft noch zusätzlich. Jedenfalls bekommt der deutsche Zuschauer nicht Woody Allens Humor vermittelt, sondern etwas, was die Synchronstudios für Humor halten oder von dem sie denken, dass das Publikum es für witzig hält.
Schottisch und Wienerisch für Anfänger
Die Verachtung deutscher Synchronstudios für den Film als Kunstform geht aber noch weiter: Seit jeher haben sie nicht nur die „Substanz“, also den semantischen Inhalt von Filmen, sondern in einem noch größeren Ausmaß den „Stil“, also die Form angegriffen. Der Tonfilm führte nicht nur zum Untergang eines manchen Stummfilmstars, was der diesjährige Oscargewinner The Artist humorvoll thematisiert, sondern brachte für Darsteller auch die neue Möglichkeit, zusätzlich zur Mimik und Körperbewegung ihre Stimme und deren Klangfarbe als schauspielerisches Gestaltungsmittel zu nutzen. Die Synchronisation jedoch, so der Medienwissenschaftler Julian Hanich, degradiert sie durch die Transplantation fremder Stimmbänder zu medizinischen Kunstfehlern: zu Hybridwesen, die mit einer fremden Stimme sprechen müssen.
Filme sind mehr als bebilderte Hörbücher. Manchmal ist es weniger wichtig, was die Filmfiguren sagen, sondern wie sie es in welcher filmästhetischen Umgebung machen. Der schottische Slang in Trainspotting sorgt etwa mindestens genauso sehr für Atmosphäre wie die geschickte Nutzung von Pop-Klassikern. In der deutschen Fassung sprechen hingegen alle Hochdeutsch. So nähert sich der frenetisch inszenierte Mikrokosmos einer Jugend-Subkultur in Schottland in der Synchronversion einem relativ eindimensionierten Junkie-Portrait. In Robert Altmans Gosford Park, einer Satire über den britischen Adel, dienen verschiedene Dialekte des Englischen nicht nur der Atmosphäre, sondern illustrieren vielmehr soziale Konflikte: Während die Adeligen Oxford-Englisch sprechen, kommunizieren ihre Bediensteten in Cockney-Slang oder schottischem Dialekt. Eine der Überraschungen des Films ist die Enthüllung der wahren Identität einer der Figuren, die daraufhin ihren angelernten Dialekt fallen lässt. In der deutschen Fassung von Gosford Park sprechen hingegen alle Figuren… nun ja: Hochdeutsch. Daher wirkt die Synchronversion auch eher wie ein überlanger, dröger Krimi denn wie eine elaboriert inszenierte Satire über Klassenkonflikte.
Synchronisation wirkt stereotypisierend und vereinfachend, da sie immer auch nach (deutscher) Eindeutigkeit strebt. Mit der differenzierten Welt polyglotter Filme kann sie unmöglich zurecht kommen. Mehrsprachigkeit im Kino bedeutet nicht nur ein von so manch deutschem Politiker verteufeltes Multikulti, sondern eben auch Missverständnisse oder Nicht-Verstehen.
In Carol Reeds The Third Man von 1949 sucht ein Amerikaner im Wien der Nachkriegszeit nach einem verschollenen Freund. Dass er sich aufgrund fehlender Deutschkenntnisse nicht mit den Einheimischen verständigen kann, verstärkt sein beklemmendes Gefühl persönlicher Isolation. Da in der Synchronfassung alle Figuren deutsch sprechen, verstehen sich alle, was die Ausgangssituation massiv verzerrt. Weil die dargestellten Verständigungsprobleme keinen Sinn mehr ergaben, griff das Synchronstudio zur Schere. Die Folge: Noch im zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts läuft The Third Man im deutschen öffentlichen GEZ-finanzierten Fernsehen in einer zwei Minuten kürzeren Fassung – Vorspann- und Abspannschnitte nicht eingerechnet.
Hier geht die Praxis langsam dazu über, dem deutschen Zuschauer auch mal das eine oder andere fremde Wort zuzumuten. Das grundsätzliche Problem, das der Synchronisation inne liegt, haben die Verleiher nach wie vor nicht lösen können, weil es eben unlösbar ist. Wenn 2009 in dem viersprachigen grotesken Kriegsmärchen Inglorious Basterds die französischen Dialoge untertitelt, die italienischen jedoch nicht und die englischen synchronisiert werden, dann ist dies schlussendlich inkonsequent. Natürlich davon abgesehen, dass Hans Landa eine seiner wichtigsten Eigenschaften (seine universale Mehrsprachigkeit) und Aldo Raine seinen urkomischen Hillbilly-Dialekt verliert, der durch die übliche gelangweilt-monotone Hochdeutsch-Synchronstimme Brad Pitts ersetzt wird.
Künstlerische Bedenken spielen bei Filmverleihen und Synchronstudios ohnehin keine Rolle. Letztere erhalten ein „International Tape“ (IT) des Films mit allen Geräuschen, außer den Dialogen. Dieses wird in etwa 700 bis 1.000 Schnipsel von maximal 10 bis 15 Sekunden zerlegt, über die die Sprecher (ohne Kenntnis des Filmkontextes) die Dialoge sprechen. Die Miete der Tonstudios ist teuer und üblicherweise werden die Sprecher im Akkord bezahlt: Insofern hat jede Partei Interesse daran, Quantität zu produzieren. Für die sorgfältige qualitative Überprüfung von Zwischenergebnissen und Endprodukt reicht die Zeit (sprich: das Geld) nicht. Daher ist es nicht verwunderlich, wenn zum Beispiel Pisek in den Woody-Allen-Filmen, die er analysiert, Dutzende von vermeidbaren Flüchtigkeitsfehlern findet: Wortverwechslungen, wörtliche Übersetzungen von „false friends“ („argument“ zu „Argument“) etc. Trotzdem schlägt eine Synchronisation mit 25.000 bis 100.000 Euro zu Buche, während das Untertiteln gerademal 3.000 bis 5.000 Euro kostet.
Da bei der Synchronisation Filme immer wie bebilderte Hörbücher behandelt werden, überrascht es kaum, wenn in deutschen Fassungen der Dialog meist erheblich lauter ist als die Geräuschkulisse des Originalfilms: Dank des IT ist dies problemlos möglich. Bei der berühmten „You talking to me“-Szene in Martin Scorseses Taxi Driver sind die Hintergrundsgeräusche (New Yorker Straßenlärm) so laut wie der Monolog selbst, während in der deutschen Fassung Travis‘ Wohnung fast komplett schallisoliert ist. Wenn aber besonders bei alten Filmen kein IT vorhanden ist, müssen nicht nur die Dialoge, sondern auch die Musik und die Geräuschkulisse des Films „neu geschaffen“ werden. Hier tun sich furchterregende Abgründe der Filmverachtung auf. Der Independent-Horrorfilm White Zombie von 1932 gilt wegen seiner expressionistischen Inszenierung als Kultklassiker. Der deutsche Verleiher jedoch ließ den gesamten Film mit permanentem Synthesizer-Gedudel und Schreien aus der Konservendose unterlegen, wahrscheinlich in der Meinung, der Film würde dadurch gruseliger werden. Prophylaktisch ließ er auch gleich Dialog-Anspielungen auf die Homosexualität einer der Hauptfiguren entfernen. Bei Orson Welles‘ Citizen Kane fehlte ebenfalls das „International Tape“. Wenngleich das Studio hier auf alberne Synthie-Spielereien verzichtete, wurde Bernard Herrmanns Originalmusik ebenso wenig neu eingespielt wie die Musikdramaturgie des Originals beachtet: Szenen, in denen Welles Stille als spannungssteigerndes Mittel einsetzt, wurden mit lautstarker Musik verunstaltet. Der einzige Film von Hollywoods enfant terrible, der in den USA nicht durch Produzenten verstümmelt wurde, blieb in Deutschland nicht verschont.
Mission Mars: Mehr OmU wagen!
Synchronisation zerstört nicht nur Kunstwerke, sondern auch Interkulturalität. Dass die ganze Welt ausschließlich deutsch spricht, ist nur ein feuchter Traum deutscher Nationalchauvinisten. In Fernsehen und Kino wird sie in Deutschland auf eine Weise gezeigt, die diesen Traum fast erfüllt. Wer von den „schöpferischen Möglichkeiten der Synchronisation“ in Deutschland schwärmt, offenbart nicht nur seine unbegrenzte Verachtung gegenüber Filmemachern als Künstlern, sondern ist auch von deutschen Überlegenheitsphantasien nicht mehr weit entfernt. Die Vorstellung hingegen, dass gerade dank Synchronisation dem deutschen Publikum fremde Kulturen näher gebracht würden, geht von falschen Prämissen aus. Sie hält kulturelle Unterschiede für unüberbrückbar, unterschätzt die Universalität der Filmsprache und führt zum „Mallorca-Syndrom“: Das Fremde wird erst akzeptiert, wenn es als Verlängerung Deutschlands wahrgenommen werden kann.
„Gewiß wird man eher eine Mars-Rakete entwickelt haben als ein Mittel, deutschen Verleihern Respekt vor der Filmkunst beizubringen“, prophezeite der Filmkritiker Enno Patalas im Jahre 1961. Er hatte Recht: Heutzutage werden erfolgreich „Raketen“ zum Mars geschossen, wohingegen Filmverleihe nach wie vor Filme nur als verfügbare Masse ohne eigenes Recht auf Schutz ansehen. Was sich verändert hat, ist die Macht der Zuschauer, solche Probleme bewusster zu erkennen. Früher konnten deutsche Cinephile nur im Ausland, bei Filmfestivals oder in wenigen Programmkinos Filme in nicht-deutscher Sprache sehen. Dies hat sich dank dem Aufkommen von DVD und Online-Streaming geändert. Kinos und Fernsehen hinken dieser Entwicklung jedoch noch stark hinterher. Gerade provinzielle Programmkinos könnten eigentlich mit Besuchern rechnen, die Filme auch als Kunstwerke wahrnehmen und bereit wären, diese ab und zu im Original mit Untertiteln zu sehen. Auch das öffentlich-rechtliche Fernsehen jenseits der spärlichen Angebote von 3sat und arte könnte ruhig mehr „OmU“ wagen. Gerade Filmklassiker werden gerne ohne jeglichen Anspruch auf ein Massenpublikum erst spätabends gezeigt. Nebst Anton Karas‘ Zither-Klängen könnte dann auch das ungeschnittene Wienerisch Paul Hörbigers wieder exotisch klingen.
Schreibe einen Kommentar