„Ich bin ein großer Fan der Freiheit“

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Juli Zeh wirft einen kritischen Blick auf Facebook, staatliche Eingriffe und die Möglichkeit des gewaltsamen Widerstandes.

UNIQUE: Frau Zeh, es heißt, Sie hätten aus Protest gegen den Gesundheitswahn wieder mit dem Rauchen begonnen?
Juli Zeh: Nein, das wäre eine schöne Story, stimmt aber leider nicht.

Ihr Buch Corpus Delicti kann man schon recht deutlich gegen diesen Gesundheitswahn sehen?
Auf jeden Fall. Es war das erste Mal, dass ich wirklich versucht habe, mit einem literarischen Text auch eine ziemlich klare politische Botschaft auszusenden.

Die fatale Idee, auf der das Staatssystem im Roman basiert – „die Gemeinschaft schuldet uns Fürsorge und daher schulden wir der Gemeinschaft das Bemühen, möglichst Not zu verhindern“. Das klingt eigentlich recht logisch.
Ja, das ist das Gefährliche daran. Dieser Gedanke wird ja heute auch schon gedacht; zumindest im Bezug auf die Sozialsysteme ist es etwas, das man immer wieder hört. Nach dem Motto: „Wir helfen Leuten in der Not, dann sind diese aber auch dazu verpflichtet, die Not zu vermeiden.“ Der Gedanke ist auch nicht ganz falsch, aber wenn man ihn zu weit treibt, kommt es einer Aufkündigung der Solidaritätsidee gleich. Die sagt schließlich nicht: „Wir verpflichten euch, dass es euch gut geht”, sondern „Wir helfen euch in der Not”. Dieses Weiterdrehen ist genau der Punkt, an dem der Staat, der wirklich unterstützen und Chancen eröffnen will, umkippt in einen Staat, der versucht, autoritär den Menschen ihre Lebenswege vorzuzeichnen.

Da wird aus „Frage dich, was du für dein Land tun kannst“ dann „Frage dich, ob du deinem Land nicht schadest“ und vor allem „ob dein Nachbar dem Land nicht schadet“?
Das kommt immer hinzu, wenn man Leuten erst mal staatlich nahe legt, wie sie zu sein haben. Damit begünstigt man auch das Denunziantentum. Das sieht man in kleinen Bereichen. Wer zum Beispiel in Bayern oder Schwaben versucht, seinen Müll nicht zu trennen, der wird feststellen, dass ihn nicht etwa die Polizei oder das Ordnungsamt belehren, sondern die Nachbarn. Je mehr Regeln es gibt, desto mehr machen sich Menschen das zu Eigen und schlüpfen in die Rolle des „Hilfssheriffs“. Das ist ein Grund, warum ich glaube, dass es keine gute Idee ist, diese Verbotskultur weiter zu fördern.

Und was ist nach Ihren Maßgaben ein gelungenes Leben?
Ich glaube nicht, dass totale Sicherheit zum Glück führt. Dafür gibt es auch keine Beispiele – abgesehen davon, dass totale Sicherheit mit staatlichen Mitteln nicht zu erreichen ist. Man erkennt gerade in Staaten, die sehr stark kontrollieren, sehr totalitär sind – also in Diktaturen – die heute schon existieren und drakonische Strafen für kleinste Vergehen verhängen, dass dort die Kriminalitätsstatistiken nicht etwa sinken, sondern steigen. Es gibt diesen Zusammenhang nicht. Zudem glaube ich nicht, dass die Menschen dafür geboren sind, um zu Hause zu sitzen und in Watte gepackt zu werden. Wir streben alle an, uns selbst entfalten und kennenlernen zu können, das Leben selbst als solches zu erfahren. Und dazu gehören immer beide Seiten der Medaille. Unser Leben spaltet sich immer in diese Dualismen.

Hat es überhaupt noch Sinn Dystopien zu schreiben, wenn trotz der Rezeption des Buches keine sichtliche Veränderung stattfindet?
Ich sehe die Funktion von Literatur anders. Es geht in erster Linie darum, dass wir uns als Menschen miteinander verständigen, einen Diskurs führen, in dem bestimmte Themen aufgenommen werden. Daher bin ich der Ansicht, dass Literatur auch ein traditionell aufklärerisches Anliegen ist. Ich betrachte das Nachdenken über Dinge schon als einen sehr wichtigen Wert an sich und ich glaube, dass es definitiv das Bewusstsein von Menschen verändert. Und wir können diese „Was-wäre-wenn-Gleichung“ nicht ernsthaft ziehen: Wir wissen nicht wie die Welt aussähe, wenn 1984 von Orwell nicht erschienen wäre. Ich war mit der Rezeption und der Auswirkung von Corpus Delicti wirklich zufrieden. Es war tatsächlich so, dass ich gemerkt habe, wie viele Menschen dieses Thema schon auf dem Schirm hatten und darüber auch tatsächlich sprechen wollten. Sie hatten bereits darüber nachgedacht und dann ist solch ein Buch ein willkommener Anlass, um die Diskussion wirklich aufzunehmen und damit ist schon viel erreicht. Das würde ich nicht unterbewerten.

Das Schlimmste an einer Dystopie ist, wenn sie irgendwann real wird. Wann hatten Sie dieses Aha-Erlebnis, dass die Literatur nicht nur Fiktion ist, sondern dass die Realität Züge von Orwells Roman annimmt?
Es war umgekehrt: Ich hatte in der Realität Dinge beobachtet, die mir gegen den Strich gingen. Das war nach 9/11. Damals ging es los, dass ich bei den Reaktionen auf diesen Terroranschlag das Gefühl hatte, es werden Dinge gesagt und wir stehen an der Schwelle, Dinge zu entscheiden, von denen ich noch eine Woche zuvor dachte sie würden niemals Realität. Danach habe ich mich aus Interesse zu diesem Thema 1984 zugewandt und zum ersten Mal gelesen.

Waren Sie dann von der Härte und der physischen Gewalt im Buch überrascht?
Ich fand es extrem hart, natürlich. Ich habe das Buch nicht in der Hoffnung gelesen, dass es mir die Welt erklärt. Was man darin beim Lesen erfährt, ist aber ein literarischer Schock. Wenn ich Berichte aus Guantanamo und Abu Ghuraib lese, wie Menschen tatsächlich gefoltert werden, auch heutzutage und nicht nur von Staaten die wir „Diktaturen“ nennen, dann ist das ein anderer Schock. Eben kein literarischer, sondern einer, der sich auf reale Ereignisse bezieht und der geht bei mir ziemlich tief. Vielleicht war es naiv zu glauben, wir und unsere Staaten hätten uns von solchen Praktiken losgesagt.

Beim Lesen Ihres Romans war es ein Schock zu begreifen, wie der Körper – das Heiligtum der Gesellschaft – zerstört wird, um an ein Geständnis zu kommen. Haben Sie den Schock darüber, dass unsere Realität auch so ist, damit verarbeitet?
Hauptsächlich wollte ich zeigen, dass Staaten immer bereit sind, ihr Heiligstes zu opfern, wenn es um den vermeintlichen Schutz ihrer Systemhaftigkeit geht. Es ist der Trugschluss, den man erleidet, denn wir schützen unseren Staat auch durch eine Art Ideologie, wie es alle anderen Länder auch tun. Auch die Demokratie trägt ideologische Züge, weil sie absolute Wahrheiten kennt. Wir wundern uns immer, wenn man in anderen Ländern sieht, wie diese Wahrheiten im realen Alltag nicht vollzogen werden, und vergessen ganz, dass das bei uns auch vorkommt. Diesen Widerspruch zwischen dem Proklamierten und dem Tatsächlichen in der Politik – den es immer gibt – wollte ich zeigen.

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Sie als Juristin erkennen die Gefahrenpotenziale staatlichen Handelns. Aber wie erkennt man diese und wehrt sich als Normalbürger?
Dafür muss man kein Jurist sein. Unsere Gesetze kommen nicht aus der juristischen Sphäre, sondern aus der politischen. Und die sollte im Optimalfall von uns allen bestimmt werden. Wenn die überwiegende Anzahl der Menschen das Gefühl entwickeln würde, etwas nicht zu wollen und sich dagegen wehren zu müssen, würde das ganz normal Ausdruck finden: über jede Form von Widerspruch und Aktivismus; über Wahlen, Demonstrationen oder Lobbyarbeit. Diese Kanäle stehen uns allen offen. Nachdem Angriff auf die Freiheit erschien, bin ich erstaunlich oft gefragt worden: „Wie wehrt man sich dagegen?“ Da habe ich immer gedacht: Wisst ihr nicht mehr was Demokratie ist? Im Iran würde ich die Frage noch verstehen, denn dort drohen Repressalien. Aber hier kann man doch die ganze Palette des Politischen bedienen, jeder von uns! Vielleicht haben hier alle ein bisschen vergessen, dass Politik das ist, was wir alle machen, und nicht das, was in Berlin zwischen 20 Leuten verhandelt wird.

Wie ist es im Umgang mit den Daten, die Staat und Wirtschaft von uns erheben: Verweigert man die „Aussage“ oder spielt man mit und legt ein facebook-Profil mit belanglosem Inhalt an?
Geschmackssache. Deswegen vollziehe ich diese starke Trennung zwischen dem, was privat bzw. privatwirtschaftlich abläuft, und dem, was staatlich aufoktroyiert wird. Denn wenn der Staat bestimmte Daten erheben will, gibt es keine legale Möglichkeit, sich dagegen zu wehren. An der Volkszählung teilzunehmen steht nicht frei, das ist Pflicht. Wer das nicht tut, wird bestraft. Man muss also politisch aktiv werden, bevor die Entscheidung für eine bestimmte Maßnahme fällt. Man darf nicht vergessen, dass unsere Kommunikationsgesellschaft, v.a. durch das Internet, noch relativ neu ist. Auch beim Umgang mit Mobilität haben wir lange gebraucht, um die Nachteile zu erkennen und zum Teil arbeiten wir immer noch daran, diese Nachteile einzudämmen. Genau so wird es beim Internet sein: Momentan ist es das große „Anything goes“ und jeder macht mit, aber irgendwann werden Leute feststellen: „Oh, da habe ich mir geschadet, das hätte ich mal besser nicht tun sollen.“ Das ist einfach Erfahrungswissen.

Es gibt durchaus Grauzonen der staatlichen Datenerhebung. Man kann die Aussage verweigern, aber Personalausweisnummer und Name sind dann schon registriert.
Wenn man einmal sehr weit fortgeschritten ist, kann die Nichtaussage, die Nichtbereitschaft, dann einem Verdacht gleichkommen. Ich bin aber ein so großer Fan der Freiheit, dass ich jedem erlauben würde, da mitzumachen, wenn er das gerne möchte. Ich hake immer dann kritisch ein, wenn ich den Eindruck bekomme, dass man sich nicht mehr dagegen wehren kann, weil etwas verpflichtend eingeführt wird. Diese Grauzone ist für mich ein Beweis dafür, dass man von staatlicher Seite solche Semi-Befragungen gar nicht durchführen dürfte. Dem müsste die Grundlage entzogen werden. Anders ist es bei einem konkreten Verdacht, aber die dabei gängigen Mittel praktizieren wir seit Jahrzehnten mit großem Erfolg. Unser Rechtssystem funktioniert super, die Kriminalitätsstatistik sinkt und sinkt, auch wenn die Leute glauben, alles würde immer gefährlicher. Es gibt eigentlich für diesen ganzen Präventiv-Wahnsinn in dieser vorgelagerten Grauzone aus meiner Sicht nicht den allergeringsten Grund, weil wir sehr gut gefahren sind mit dem System, das wir hatten – bis vor fünf bis zehn Jahren. Ich sehe keinen Grund das zu ändern.

Wenn Sie in der Zeitung läsen, dass alle Überwachungskameras von Unbekannten entfernt oder eingeschlagen worden sind – wäre da eine gewisse Schadenfreude?
Ich hätte schon Schadenfreude, zugegeben, aber ich würde das nicht machen. Das ist eben eine Temperamentssache. Für mich ist die Grenze dessen, was ich tue, identisch mit der Grenze des Erlaubten. Ich will nicht ausschließen, dass nicht irgendwann eine politische Situation da wäre, wo ich weitergehen würde, aber das ist momentan nicht der Fall. Mir reicht es aus, auf Demonstrationen zu gehen und Artikel zu dem Thema zu veröffentlichen. Ich sortiere auch mein Privatleben so, dass es dieser politischen Überzeugung entspricht, weil ich glaube, dass man in einer so durch-ökonomisierten Gesellschaft mit jeder Kauf- und Konsumentenentscheidung auch politische Mitbestimmung ausübt. Wird ein bestimmtes Produkt nicht mehr gekauft oder eine bestimmte Dienstleistung nicht mehr in Anspruch genommen, dann wird es die irgendwann auch nicht mehr geben. Darum wende ich das sehr flächendeckend an. Ich gebe weder meine Postleitzahl an der Supermarktkasse bekannt, noch mache ich mit, wenn die Bahn eine Umfrage macht.

Wenn sich die Situation in unserem Land doch zum Negativen verändern würde, wäre von Ihrer Seite ein Übertreten des gesetzlich Erlaubten zu erwarten?
Das hängt nicht von mir ab. Das hängt davon ab, wie sich die Verhältnisse entwickeln. Wie gesagt: Unsere Gesellschaft, wie sie heute aufgestellt ist, würde ich nach wie vor als gut funktionierend, als sehr demokratisch und als grundsätzlich in Ordnung bezeichnen. Dass man sie ständig dennoch kritisieren muss an den Punkten, wo es einem gegen den Strich geht, das ist Teil des demokratischen Prozesses. Das ist keine Absage an die Demokratie, sondern im Gegenteil genau das, was wir Demokratie nennen. Den Punkt, wo ich wirklich sagen würde „Jetzt habe ich das Gefühl, dass auch Gewalt oder Terrorismus oder so etwas legitim wären“, sehe ich noch in extremst weiter Ferne. Deswegen kann ich mir das momentan auch nur schwer vorstellen. Ich würde es grundsätzlich nicht ausschließen. Denn gerade in unserem Land sind Dinge passiert, wo wir im Rückblick sagen: Da wäre Widerstand gut und richtig gewesen. Von daher muss man sich selbst und die Welt, die einen umgibt, immer wieder überprüfen und sich fragen: Wo stehen wir? Kann ich noch mitgehen? Wo ist der Punkt erreicht, wo ich sagen würde, jetzt ist tatsächlich die Zeit für diesen Ungehorsam?

Frau Zeh, wir danken Ihnen für das Gespräch.

Das Interview führten Christoph Borgans und Michaela Meißner.

Die 1974 in Bonn geborene Juli Zeh besuchte nach dem Jurastudium in Passau und Leipzig das Deutsche Literaturinstitut in Leipzig. Mit ihrem Roman „Corpus Delicti“ und dem Buch „Angriff auf die Freiheit“, gemeinsam mit Troja Iljanow, setzte sie sich kritisch mit der Thematik des Überwachungsstaats und seinen Wurzeln in unserer gegenwärtigen Gesellschaft auseinander.

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